Betrachtungsräume
Bei „Betrachtungsräume“ handelt es sich um Gianni Passerettis Bachelorarbeit in Fotografie.
In früheren Arbeiten, wie z.B. Self-portrait Diary (2021), bei welcher dey über mehrere Wochen jeden Tag unter den gleichen fotografischen Bedingungen ein Foto von sich aufnahm, arbeitete Gianni Passeretti bereits mit einer Vielzahl an Selbstporträts. Generell steht bei deren Arbeiten die eigene Queerness meist im Vordergrund. Mit Betrachtungsräume wurde deren Arbeitsweise nun durch das Erarbeiten einer Installation, die sich nicht auf Fotografien allein beschränkt, auf eine neue Ebene gebracht.
Der Grundriss für Gianni Passerettis Bachelorprojekt besteht aus vier Stellwänden, welche zusammen eine U-Form ergeben. Die offene Seite wird größtenteils mit einem Vorhang bespielt, sodass ein geschlossener Raum entsteht, der immer noch leicht zu betreten ist, also nicht „verschlossen“ wirkt. Innerhalb dieses Raumes befinden sich an den kurzen Wänden, also den Wänden links und rechts, wenn man hineinkommt, jeweils drei Selbstporträts. Diese bestehen aus jeweils zwei ca. A3-formatigen, gerahmten Porträts von Giannis Gesichts und einem großformatigen Ganzkörper-Porträt.
„Die Porträts auf der linken Wand habe ich zuhause aufgenommen. Ich sitze auf einem Sessel und trage Kleidung (Grünes Sweatshirt, kurze Adidas-Shorts, schwarze Socken), welche ich ausschließlich zuhause trage, wenn ich alleine bin und mich niemand sieht. Was für mich persönlich aber noch intimer ist, ist dass ich im Gesicht unrasiert und ungeschminkt bin. Meine Gesichtsbehaarung, sowie mein Bartschatten unter Make Up, sind Merkmale, welche mich in den letzten zwei Jahren immer mehr störten. Seit knapp einem Jahr lasse ich mir deshalb den Bart weglasern, weshalb man auf den Fotos vielmehr vereinzelte Bereiche sieht, wo die Haare noch nicht ausgefallen sind. Die gegenüberliegende Wand zeigt Porträts von mir in einem roten Top, kurzen Jeansrock, schwarzen Plüschstiefeln mit Absatz und einer bunten Handtasche. Ich bin aufwendig geschminkt, ein Full Face Make-up sozusagen, mit falschen Wimpern und vielen Glitzersteinen um die Augen herum geklebt. Wie fast das ganze Jahr über habe ich auch auf diesen Fotos lange, auffällige Acryl Fingernägel.“
An der langen mittigen Wand befinden sich mehrere Tablets (ca. 10 Stück, darunter evtl. auch einige Smartphones), welche dazu dienen, Videos von Giannis Augen in einer Dauerschleife abzuspielen. Die Videos haben alle eine ungefähre Länge von 3 Minuten und unterscheiden sich dadurch, dass deren Augen immer wieder nach links und rechts wandern, der Blick konstant geradeaus gerichtet ist oder dadurch, dass dey müde, wütend oder belustigt schaut.
Mithilfe der Installation soll das Verhältnis zwischen Betrachter*innen und porträtierten Personen bzw. Künstler*innen, welche ihr Selbst als Teil ihrer Kunst verstehen, erforscht und hinterfragt werden. Durch das Integrieren von mehreren Videos von Gianni Passerettis Augen in den Raum, in welchem deren Selbstporträts ausgestellt werden, erhofft dey sich, dass Betrachter*innen das Gefühl bekommen, dey als Künstler*in, sowie porträtierte Person, sei bei der Ausstellung stets anwesend. Während die Betrachter*innen Gianni durch deren Fotografien ansehen, analysieren und vielleicht bewerten, machen deren Augen dasselbe mit ihnen. Das grundlegende Verhältnis von Betrachter*in und der porträtierten Person bzw. der Künstler*in wird aufgebrochen und neu gedacht. Da das einseitige Machtgefälle des Betrachtens entkräftet wird, kann so eine direkte Konfrontation entstehen. Dazu kommt, dass die unterschiedlichen Porträts sich auf gegenüberliegenden Wänden befinden, sodass sich Betrachter*innen im Raum bewegen, vorbei an den Augen, und eine physische Dynamik geschaffen wird. Gianni Passeretti hat bewusst Tablets als Medium mit eingebracht, um die Videos derer Augen zu zeigen, da sich das Sehen und Gesehen werden von anderen Personen in unserer digitalen Welt immer häufiger online auf Social Media Plattformen abspielt: „Noch nie war es so einfach, andere Menschen zu Analysieren und Bewerten, ohne dabei bemerkt zu werden, wie heute.“
Gianni Passeretti identifiziert sich als nichtbinäre Person, weshalb für dey hierbei noch einige andere wichtige Fragen ins Spiel kommen: „Wie lesen mich insbesondere cis (hetero) Personen in meinen Selbstporträts? Wie betrachten sie mich auf den Fotografien, in denen ich mich zuhause befinde und wie auf den Fotografien, bei welchen ich ,weibliche‘ Kleidung trage?“
Mit „Betrachtungsräume macht sich Gianni vulnerabel. Im Austausch dafür wünscht dey sich mehr Sichtbarkeit. Mehr Interesse an anderen (Gender-)queeren Menschen. Mehr Sensibilität. Mehr Verständnis. Mehr Respekt. Auch für andere marginalisierte Menschengruppen.
Gianni Passerettis Bachelorarbeit wurde vom 26.09. - 5.10.2024 im Rahmen des Folkwang Finales am Campus Welterbe Zollverein präsentiert.