Die von Giorgia Maddamma und Roman Arndt ins Leben gerufene Initiative UNITANZ hat für eine Woche Folkwanglehrende und –studierende mit etwa 30 italienischen Tanzschülern in Lecce zusammengebracht. Aus ganz Italien sind junge Tanzbegeisterte nach in die süditalienische Universitätsstadt gekommen, um sechs Tage lang von morgens bis abends bei Folkwang-Ikonen wie Malou Airaudo, Henrietta Horn, Stephan Brinkmann, Giorgia Maddamma und Roman Arndt Technik-, Kompositions- und Theorieunterricht zu nehmen. Das, was sie in dieser einen Woche gelernt haben, soll sich nun an diesem einen Abend im römischen Theater bei einer gemeinsamen Vorstellung der ganzen Gruppe mit Folkwang-Studierenden und -Lehrenden zu einem Ganzen fügen.
Das antike Teatro Romano, mitten im Zentrum der bezaubernden apulischen Barockstadt und doch etwas versteckt zwischen aufragenden Hauswänden und Kirchtürmen gelegen, wird in diesen Spätsommertagen viel für kulturelle Veranstaltungen genutzt; auch deswegen muss an diesem einen Tag bis zum Einbruch der Dunkelheit alles auf einmal erledigt werden: die Entscheidungen, wie die Bühne, aber auch die vielen malerischen Nischen und Treppchen genutzt werden; die Auf- und Abgänge der Tänzer, die technische Einrichtung, Musik, Licht und, und, und. Nicht alle Workshopteilnehmer haben so viel Bühnenerfahrung wie die fünf Folkwangstudierenden, die mit nach Lecce gekommen sind und nun mit verschiedenen Soli die abendliche Performance maßgeblich mitgestalten. Viele englische Anweisungen von Henrietta Horn und Stephan Brinkmann müssen noch einmal von Giorgia ins Italienische übersetzt werden, um wirklich von allen verstanden zu werden.
Doch die Konzentration wächst – mit jeder Stunde und mit jeden Grad Celsius weniger. Die Generalprobe bei schönster Sonnenuntergangsatmosphäre wird zwar momentweise von diskutierenden Feuerwehrmännern und verirrten Passanten durchkreuzt, aber sie zeigt: die gemeinsame Vorstellung, bei der sich Gruppenszenen, Soli und Duette in verschiedensten Konstellationen abwechseln, wird nicht nur gelingen, sie wird auch noch toll aussehen. Je mehr sich das Tageslicht verdunkelt, desto stimmungsvoller leuchten die sandfarbenden alten Steine des Teatro Romano vor dem immer dunkler werdenden Blau des nächtlichen Himmels. Folkwangabsolventen überzeugen mit großartigen Soli und auch unter den italienischen Mitwirkenden gibt es Talente, die auf der Bühne sofort ins Auge fallen.
Da ist z.B. Andrea. Ursprünglich stammt der junge Mann mit den wilden Locken, dem wachen Blick und der expressiven Ausdruckskraft aus Lecce. Seit vielen Jahren schon arbeitet er in Mailand als freiberuflicher Schauspieler in verschiedenen Theatercompanien. Dass Schauspieler auch ihren Körper bewusst einsetzen und dafür ihre Körpersprache beherrschen müssten, davon ist er überzeugt. In Italien sieht Andrea aber genau an diesem Punkt noch Verbesserungsbedarf. Auch wenn – im wahrsten Sinne des Wortes – langsam etwas Bewegung in die ganz Sache komme, sei nicht nur die Ausbildung immer noch eher konventionell und stark auf Sprache und statisches Spiel ausgerichtet; auch ausgebildete und erfahrene Schauspieler seien, laut Andrea, oft ‚zu faul’, sich in einer körperlichen Praxis weiterzuentwickeln. Nach 25 Jahren in Norditalien, will der professionelle Schauspieler, der auch als Tänzer zu überzeugen versteht, zumindest zeitweise nach Lecce zurückkehren, um hier künstlerisch etwas aufzubauen. Der Süden sei in Sachen Theater noch immer unterentwickelt, so seine Einschätzung. Was er von dem intensiven Workshop-Programm der Folkwanghochschule mitgenommen hätte? Vor allem große Schmerzen in den Beinen, scherzt er. Um dann ganz ernsthaft anzufügen: „Irrsinnig viel Inspiration, denn so etwas wie Folkwang gibt es in ganz Italien nicht.“
Das bestätigen auch andere Workshopteilnehmer, wie z.B. Patrizia. Die anmutige Vierzigjährige unterrichtet Tanz auf Sizilien und ist mit vier Schülerinnen des Studio Danza Due aus Palermo für eine Workshopwoche nach Lecce gekommen. Die Tanzausbildung in Italien sei sehr an der klassischen Ästhetik orientiert, meint sie. Persönlicher Ausdruck, individuelle Gestaltung und Reflektion auf das eigene Tun seien dabei weniger gefragt und genau diese Qualitäten finden sie und ihre Schülerinnen nun in den verschiedenen Klassen, die den ganzen Tag ausfüllen.
Auch Chiara, eine junge Psychologin aus Lecce, ist von der Fülle des Workshop-Programms inspiriert. „Hier im Süden gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich im Feld des zeitgenössischen Tanzes und Tanztheaters weiterzuentwickeln“, meint sie. Bereits zum dritten Mal ist sie beim Folkwangsommerprogramm in Lecce dabei; dabei schätzt sie nicht nur den Zugewinn an Tanztechnik, sondern auch die Duettarbeit und vor allem den Moment, wenn die gesamte Gruppe für die Aufführung eine gemeinsame Energie und Konzentration entwickle.
Dass eine traditionsreiche und wichtige deutsche Hochschule wie Folkwang im Süden Italiens diese intensive Art von Unterricht anbiete, erlebt die Psychologin auch als große Chance zur Weiterentwicklung der eigenen Profession. Zwischen der Art, wie in Folkwang Tanz unterrichtet wird und der Psychologie, wie Chiara sie praktiziert, entdeckt die Süditalienierin zahlreiche Parallelen. „In jedem Unterricht musst du ganz du selbst sein. Selbst wenn in Folkwang Tanztechnik unterrichtet wird, fordern die Lehrer dich als erstes als Person und dann erst als Tänzer. Genau so erlebe ich auch meine Arbeit als Psychologin. Für die kann ich das, was ich in den Workshops lerne, fruchtbar machen. Denn ein erstarrter Geist kann häufig durch körperliche Praxis wieder belebt werden. Gerade in der Arbeit mit jungen Mädchen, die Probleme mit ihrem Körper haben, setze ich oft Elemente ein, die ich hier im Unterricht gelernt habe, damit die Mädchen ihren Geist und ihren Körper wieder in Kontakt miteinander bringen können.“
Das sommerliche Workshopangebot der Initiative UNITANZ richtet sich, laut der Organisatorin Giorgia Maddamma, nicht nur an interessierte Lecceser, sondern soll überregionale Attraktivität ausstrahlen. Ihr Plan –‚UNITANZ soll keine provinzielle Initiative sein!’ – geht auf; tatsächlich kommen die Tänzer und Tänzerinnen aus allen Regionen Italiens. Und Glück für UNITANZ – die Stadt Lecce hat das Potenzial der Veranstaltung erkannt und unterstützt sie durch die mietfreie Nutzung des Theaters über immerhin ganze zwei Wochen.
Gigi Coclite ist eigentlich Anwalt, seit vielen Jahren aber auch der Kulturverantwortliche der konservativen Lecceser Stadtregierung. Mit etwas Glück trifft man den freundlichen, viel beschäftigten Mitfünfziger auf eine halbe Stunde in seinem klimaanlagengekühlten Büro mitten in der Altstadt. Auf die Frage, warum die Stadt Lecce eine Veranstaltung wie UNITANZ unterstütze, antwortet Gigi Coclite mit sonorer Stimme: „Die Antwort hat man gestern Abend im Theater gesehen – es war eine großartige Vorstellung.“ Darüber hinaus liege einer Kulturverwaltung natürlich immer auch daran, schlummernde Talente zu entdecken und zu fördern. „Vielleicht werden einige der diesjährigen UNITANZ-Studenten die Lehrer und Künstler der Zukunft sein. Und für viele junge Talente ist UNITANZ die einzige Chance, Lehrer wie Henrietta Horn, Stefan Brinkmann und Malou Airaudo kennenzulernen.“
Dass Lecce auch jenseits von UNITANZ eine große Anziehungskraft besitzt, zeigt sich an den Touristen, die glücklicherweise zwar noch nicht in Massen, aber viel zahlreicher und völlig zu Recht in die barocke Stadt strömen als noch vor einigen Jahren. Laut Gigi Coclite gilt das auch für Künstler, die die Attraktivität der apulischen Schönheit erkannt haben. So selbstbewusst ist Lecce in Sachen Kultur, dass es sich für 2015 um den Titel ‚Europäische Kulturhauptstadt’ beworben hatte – und den nur knapp verfehlt hat. Während nun das etwas weiter nördlich gelegene Matera als Europäische Kulturhauptstadt firmiert, ist Lecce in 2015 Kulturhauptstadt Italiens. Immerhin hätte Lecce – im Gegensatz zu benachbarten Industriestädten wie Bari und Brindisi – schon immer auf Kultur gesetzt, meint Gigi Coclite – und zunehmend auch auf Tourismus, was sein smarter Stadtregierungskollege, Bürgermeister Paolo Perrone, bestätigt.
Beide hoffen in den nächsten Jahren auf ein verstärktes Engagement Ortsansässiger Unternehmen in Sachen Kultur. Momentan sei es noch so, dass Firmen aus Lecce statt in kulturelle Veranstaltungen zu investieren, noch immer auf Sport setzten. Lecces Fußballverein ist weit über die Grenzen Apuliens hinaus bekannt – und genau das möchte Paolo Perrone auch für den kulturellen Ruf Lecces erreichen. Und vielleicht hat die Stadtregierung Lecces in diesem Punkt mit Giorgia Maddamma die richtige Partnerin gefunden. Ihre Ambitionen sind auf jeden Fall ziemlich hoch gesteckt: „Seit vielen Jahren schon denke ich über eine qualitätsvolle zeitgenössische Tanzausbildung in Italien nach – weil es die hier nicht gibt! Für meine Projekte habe ich hier lange keine Tänzer gefunden. Ich würde gerne eine richtige universitäre Ausbildung anbieten – aber das ist ein sehr ferner Traum. Nicht ganz unrealistisch ist dagegen, dass UNITANZ immerhin drei bis vier mal im Jahr Unterricht in Technik und Komposition anbieten könnte – mit Lehrern aus Folkwang.“ Und Giorgia Maddamma hat noch mehr Idee, z.B. Choreographie-Masterstudierende verschiedener Universitäten für ein paar Wochen in Lecce zusammen zu bringen, damit sie hier ein gemeinsames Projekt entwickeln. Das würde dann nicht nur im hiesigen Teatro Romano, sondern auch in den verschiedenen Instituten Mittel- und Nordeuropas gezeigt werden können.
Zugegeben: Das alles ist noch Zukunftsmusik. Aber Lecces Aufstieg zum kulturellen Hotspot Süditaliens hat ja auch gerade erst begonnen.