Folkwang

folkwang ist… mit der Risikogruppe auf Augenhöhe von Prof. Carolin Schreiber

Carolin Schreiber lehrt an der Folkwang Universität im Fachbereich Gestaltung, Industrial Design. Sie ist außerdem gestalterisch-wissenschaftliche Leiterin des Projektes „Demenz Dinge“, einem interdisziplinären Projekt an der Folkwang Universität der Künste, das Alltagslösungen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen partizipativ-gestalterisch entwickelt. Hier schildert sie, welche Auswirkungen die Kontaktsperre auf Menschen mit Demenz hat und welche Rolle Gestaltung dabei spielen kann.

Seit August 2018 gibt es an der Folkwang Universität der Künste ein großes gestalterisches Forschungsprojekt mit dem Namen „Demenz Dinge“. Interdisziplinär aufgestellt, erarbeiten Designer*innen, Demenzexpertinnen und Soziolog*innen gemeinsam mit Betroffenen, also Menschen mit Demenz* und ihren pflegenden Angehörigen, Alltagslösungen zur Steigerung der Lebensqualität im privathäuslichen Bereich. Bevor die Abstandsregeln in Kraft traten, führten wir auf Augenhöhe mit „unseren“ Familien in einem sehr persönlichen Rahmen, nämlich in deren Privatwohnungen und im  wöchentlichen Rhythmus partizipativ-gestalterische Designprozesse durch. Ziel des Projekts ist es, die betroffenen Menschen zu motivieren, sich mit ihrem herausfordernden Alltag eigeninitiativ und vor allem gestalterisch auseinanderzusetzen und ihnen dafür entsprechende Hilfestellungen zur Gestaltung an die Hand zu geben (Stichwort Design Empowerment). Wir sind also sehr nah dran an den Lebenswelten, Bedürfnissen und Ängsten einer dieser medial viel diskutierten Risikogruppen.

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Non-Intentional Design. Eine Distanz-Maßnahme am Tor einer Seniorenresidenz in Essen Überruhr, Foto: Kerstin Rademacher


Kein Design „von der Stange“ für Menschen mit Demenz

Als Designer*in neigt man häufig dazu, Probleme „schnell und pragmatisch“ lösen zu wollen. Nach dem Motto: (Corona-)Krise gleich Chance. Eine Chance, die Initiative zu ergreifen sowie unkompliziert und kreativ Lösungen zu erschaffen. Ein Mundschutz aus Stoffresten ist mit Hilfe eines Schnittmusters zügig genäht und nach einigen Testversionen möglicherweise auch gestalterisch optimiert. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen neu gestalteten Apps, die das Leben in Corona-Zeiten optimieren sollen. (Ur-) Enkel*innen können gemeinsam mit isolierten alten Großeltern digital über die Distanz kreativ werden und so die Traurigkeit über den fehlenden echten Kontakt kompensieren.

Das alles klingt vermeintlich einfach. Die Technologien sind schließlich vorhanden und vernetzt ist man ja eh schon seit dem Urknall des Internets. Gestaltung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen muss allerdings ganz anderen Ansprüchen folgen. Das ist uns über die vielen Jahre, in denen wir das Thema bereits behandeln, klar geworden. Wie sehr die derzeitigen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung diese Gruppe allerdings treffen und wie wenige praktische Lösungen „mal eben“ für sie nutzbar sind, macht uns die Wichtigkeit unseres intensiven Projektes erst recht bewusst. Lösungen für Menschen mit Demenz sind nämlich meistens nicht „von der Stange“ oder im Handumdrehen gestaltet und produziert.

Besondere Herausforderungen

Fragestellungen zur Verbesserung des Alltags und Lebens mit Demenz betreffen im Projekt „Demenz-Dinge“ sehr häufig die Bereiche ‚Ansprache und Kommunikation‘ sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, subjektives Sicherheitsgefühl oder auch die Aktivierung von Körper und Geist zum Erhalt des Gesundheitszustands. In Zeiten der Isolation und Distanz sind Menschen mit Demenz weitreichend betroffen. Digitale Kommunikation ist nur begrenzt zu realisieren und ersetzt in keinem Fall den echten menschlichen Kontakt.

Die Demenzexpert*innen aus unserem Team berichten aus den isolierten Senior*innenen- bzw. Pflegeinstitutionen das, was uns auch die isolierten Privathaushalte zurückmelden – nämlich, dass die Demenzen in den letzten Wochen viel „Fahrt aufgenommen haben“. Menschen mit kognitiven Einschränkungen benötigen für ihr Sicherheitsempfinden Routinen und Struktur in einem bestenfalls gleichbleibendem Alltag: Gleiche Gesichter, gleiche Tagesabläufe, aber auch Berührungen, wenn Sprache als Kommunikationsmöglichkeit nicht mehr funktioniert. Sie reagieren auf durch Masken vermummte Gesichter mit negativen Gefühlen, zum Beispiel Angst, und verbinden damit Gefahren wie Bedrohung oder Kriminalität (dunkle Masken) oder Krankheit (OP-Masken).

(Gefühlte) Einsamkeit und öffentliches Leben

Vertraute Menschen, zum Beispiel Familienmitglieder, Nachbar*innen und zur Unterstützung eingesetzte Ehrenamtliche, die plötzlich Abstand halten und keine Berührungen zulassen, verunsichern und heben die Welt für Demenzerkrankte aus den Angeln. Die (gefühlte) Einsamkeit durch mangelnde Ansprache und Kontaktverbote erhöht das Risiko für zahlreiche Erkrankungen wie Depression, Herzinfarkt, Schlaganfall und das rasante Fortschreiten der Demenz. Einen Aufenthalt im Krankenhaus gilt es allerdings in Corona-Zeiten für Menschen mit Demenz besonders zu vermeiden, da hier die Hygieneregeln noch einmal um ein Vielfaches strikter sind und Demenzerkrankte im schlimmsten Fall sogar pharmakologisch oder körperlich fixiert werden müssen, um anderen nicht zu nahe zu kommen.

Interessant wird es vor allem für Menschen mit Demenz, wenn sie (noch) im öffentlichen Raum unterwegs sein können. So kennen wir eine Angehörige, die ihren dementiell veränderten Mann im Auto zurück lässt, da er im Supermarkt nicht dazu in der Lage ist, mit Maske und eigenem Einkaufswagen hinter ihr her zu gehen. Der Sinn von Hinweisschildern, Symbolen, Markierungen, Trennlinien oder raumstrukturierenden Aufbauten aus Kisten oder Barrieren kann nicht gedeutet werden und führt zu Konflikten im öffentlichen Leben. Wurden Demenzerkrankte schon vor der Pandemie im öffentlichen Raum nicht „verstanden“, so mischt sich in diese Problematik aktuell auch eine aggressive Grundhaltung, wenn Regeln nicht ordnungsgemäß erfüllt werden.

Die Liste der Situationen, die in rasender Geschwindigkeit die Welt der Menschen mit Demenz verändert haben, könnte noch um viele Punkte ergänzt werden. Letztendlich bleibt für uns als partizipativ-gestalterisches Projektteam aber die Erkenntnis, dass Design-Empowerment für diese große und oft missverstandene Personengruppe unserer Gesellschaft zwingend notwendig ist, so dass deren Alltag durch selbst gestaltete Alltagshilfen so bald wie möglich wieder eine gewisse Routine und Sicherheit erfahren kann.

Über „Demenz Dinge“

Das Projekt „Demenz Dinge“ ist ein Modellprojekt, das von der Stiftung Wohlfahrtspflege über drei Jahre finanziert wird und bei der Theresia-Albers-Stiftung verortet ist. Neben der katholischen Pflegehilfe Essen ist die Folkwang Universität der Künste mit insgesamt drei Mitarbeiterinnen involviert.  Während der Corona-Pandemie läuft das Projekt eingeschränkt weiter.

Weitere Infos zu dem Projekt gibt es hier: www.demenz-dinge.com

*Demenz ist eine unheilbare, sehr komplexe Krankheit, die mit dem Verlust der kognitiven Fähigkeiten einhergeht. Vor allem sehr alte Menschen sind betroffen. Nicht selten leiden demenzerkrankte Menschen auch unter weiteren Alterskrankheiten wie Herzleiden, Bluthochdruck oder Diabetes. Zudem leben Menschen in fortgeschrittenem Demenzstadium auch sehr häufig in Alteneinrichtungen, da die Pflege dann nicht mehr ausschließlich von Angehörigen und ambulanten Pflegediensten übernommen werden kann.

Text: Carolin Schreiber