Der magische Reiz des Grausamen

Uraufführung im Folkwang Tanzstudio: Der Düsseldorfer Choreograph Ben J. Riepe inszeniert „shy-wild” – ein Stück, das Schlimmes in unerträglicher Perfektion zeigt
NRZ Essen, 20.07.2009

Der magische Reiz des Grausamen Uraufführung im Folkwang Tanzstudio: Der Düsseldorfer Choreograph Ben J. Riepe inszeniert „shy-wild” – ein Stück, das Schlimmes in unerträglicher Perfektion zeigt

Als das diffuse Licht über dem Schlachtfeld restlos erlischt, verharren den Zuschauer einen Moment reglos, einige mit vor de Brust verschränkten Armen, fast unmerklich den Kopf schüttelnd. Dabei dürfte von vorneherein klar gewesen sein: Ben J. Riepes Stück „shy-wild” ist nichts für zarte Gemüter.

Es geht dem Choreographen um die Ästhetisierung des Grausamen und tatsächlich gibt es bei der Uraufführung seiner neuesten Produktion in der neuen Aula der Folkwang Hochschule keinen Moment, in dem man nicht vor Ekel und Entsetzen wegsehen möchte angesichts der Gewalt, der Schreie, des Blutes – und dennoch gebannt sitzen bleibt. Und das ist das eigentlich Erstaunliche. Wie schafft Riepe das?”

Alles passiert wie in Zeitlupe, jede Bewegung der zehn Tänzer des Folkwang Tanzstudios ist präzise aufgeführt, in schier unerträglicher Perfektion, der man sich nicht entziehen kann.

Auf der nackten, in kaltes Licht getauchten Bühne, die den Blick auf sämtliche Beleuchtungs- und Technikanlagen und Türen hinter den Kulissen freigibt, verrenken sie ihre Körper, dass es einem beim Zusehen wehtut: Eine Frau krabbelt mit dem Oberkörper zwischen ihren eigenen Beinen durch, bis ihr Rücken auf dem Boden liegt, obwohl sie immer noch fest auf ihren Füßen steht – ihre Glieder wirken merkwürdig verzerrt.

Ein junger Tänzer entblößt seinen aschfahlen Oberköper und richtet eine Pistole in den Zuschauerraum, sein Blick: aggressiv, irre. Geschmeidig schreitet eine bewaffnete Frau auf hohen Absätzen über die Bühne – auch hier: langsam, jede ihrer auf ein Minimum reduzierten Bewegungen wirkt bedrohlich, zugleich aber auf seltsame Weise erotisch.

Ob man will oder nicht, die eindinglichen Bilder bleiben im Gedächtnis: zu schreienden Fratzen verzerrte Gesichter, in unmöglichem Winkel abstehende Gliedmaßen, aus einem Silberkännchen vergossenes Blut, das sich ein junger Tänzer über Gesicht und Haare verteilt.

Untermalt sind die Szenen von Stöhnen und Wimmern, Geschützdonner, dem Lärm eines startenden Hubschraubers. Eine Frau würgt aufs Widerlichste ins Mikrofon, eine andere schluchzt herzzerreißend.

Am Ende steht die zehnköpfige Formation wie ein Gruselkabinett in diffusem Licht, geisterhaft zuckend, unheimlich. Mit den dunklen Kleidungsstücken, die über den gesamten Bühnenboden verteilt liegen, erinnert die Szene an ein Schlachtfeld und bekommt durch das präzise eingesetzte Zwielicht etwas Bizarres.

Umso mehr, als eine Frau in die Stille hinein ein Lied summt und in hysterisches Lachen ausbricht, das in Kreischen übergeht und wieder erstirbt. Im Vordergrund protzen eine Frau und zwei Männer mit ihren Muskeln, weiter hinten übt eine Tänzerin klassische Ballettposen

Das Grausame hat einen magischen Reiz und Riepe versteht es, selbst widerlichste Gewalt so in Szene zu setzen, dass die Zuschauer ebenso entsetzt wie fasziniert hinschauen. Und so löst sich das Premierenpublikum nach einem Moment der Starre und klatscht zunächst verhalten, dann immer begeisterter Beifall.

shy-wild: stören, verstören, zerstören

Werdener Nachrichten, 24.07.2009

Stöhn, würg, schrei, schluchz: Einem übergedrehten Comicstrip glich „shy-wild”, das Stück des Folkwang Tanzstudios, dass am vergangenen Wochenende Premiere feierte. Choreograph Ben J. Riepe trieb seine zehn Tänzerinnen und Tänzer zu verbalen und kinetischen Höchstleistungen. Stören, verstören, zerstören war die Botschaft, die zwischen Manga und Pulp Fiction mit knalliger Ästhetik und Action umgesetzt wurde. Nichts für schwache Nerven: Es war ein Auf und Ab des Überdrehten, mit grandiosen Bildern und wirkungsmächtigen Eindrücken, oft bis zum Rand des Erträglichen, und gerne darüber hinaus, besonders wenn's zwischendurch auch mal richtig albern wurde.