Von Welle zu Dackel

Neue Stücke beim Folkwang Tanzstudio

tanzjournal 4/03
Andreas Meyer

Die Mischung von Tanz und Medienkunst ist nicht neu. Aber sie birgt durchaus noch Überraschungen, wie das Essener Tanzstudio (FTS) mit seiner neuesten
Produktion unter Beweis stellte. „Prallen. Tanz - Komposition - Medien” heißt der Abend, der aus zwei Teilen beseht und eine Kooperation zwischen FTS und dem
Institut für Computermusik und Elektronische Medien ist. Den ersten Teil, „Auch Georgien liegt am Meer”, entwickelte Medienkünstler und Komponist Dietrich
Hahne, den zweiten mit dem Titel „Der Hahn ist tot” FTS-Choreographin Henrietta Horn. Ungewöhnlich an diesem Projekt ist, dass beide Künstler in dieser
Produktion erstmals „fachfremde” Medien in ihre Kunst einflochten. Hahne den Tanz und Horn den Film. Die Ergebnisse hätten unterschiedlicher nicht ausfallen
können.

„Auch Georgien liegt am Meer” ist ein Stück über die Erinnerung. Die Szene zeigt ein Paar, sie in einem roten Kleid, er im Anzug. In den weiß ausgeschlagenen
Bühnenraum und auf die ebenfalls weiß gekleideten restlichen Tänzer werden Sequenzen vergangener Urlaubsidyllen projiziert. Italien, Dänemark, Dünen, Wellen.
Nach und nach wird das Paar Teil seiner eigenen Erinnerung. Im Mittelteil der Choreographie trägt es weiße Kleider wie das restliche Ensemble, wird zur sich
bewegenden Projektionsfläche und somit in den Film gesogen. Zum Schluß spuckt die Erinnerung das Paar wieder aus. Vor den verschwommenen Konturen des Films
steht die Frau in Rot. Das Problem oder - je nach Blickwinkel - der Vorteil dieses Stücks, ist, daß der Film deutlich dominiert. Die Musik, ebenfalls von Hahne
komponiert, paßt kongenial zu den Bildern.

… Ganz anders Horns „Der Hahn ist tot”. Der Handlungsfaden - ein Hahn wird abgeschossen und zu einem Mahl verbraten - ist zwar nur ein dünnes Fädchen, doch das macht nichts. Denn er ist Auslöser für eine skurrile Revue mit Szenen aus dem bürgerlichen Spießerleben. In schicken Anzügen und Kostümen geben sich die
hervorragenden Tänzer des FTS anfangs pantomimisch der Freude und der Wut eines Fußballpublikums hin. Im Lauf der Choreographie konzentriert sich das Geschehen auf zwei Komponenten: schauderhafte Streifentapeten und Dackel. So wird eine Art Familientreffen im Streifentapetenzimmer zu einem kommentierten Sportereignis, bei dem die Protagonisten auf ihren Kleidern das gleich Streifenmuster der Tapete tragen. Reizvoller Höhepunkt ist indes eine schwingende Dackelpolonaise, die genau zur Musik geschnitten und gefilmt über die Leinwand im Hintergrund läuft, während sich ein Tänzer nach und nach den Dackelschritten anpasst und sich
schließlich in die Dackelpolonaise einfügt. Das ist nicht nur raffiniert gemacht, es ist vor allem tatsächlich komisch. Was an „Der Hahn ist tot” überzeugt, ist
Horns unverkrampftes, lockeres Spiel. Sie formt die Elemente Film, Tanz, Musik, Schauspiel zu rund 30 unterhaltsamen Theaterminuten und zeigt eine Seite, die
bisher von der Choreographin in dieser Art nicht zu sehen war.

NRZ, 9. Juni 2003

Dagmar Schenk-Güllich

In der Neuen Aula stand jetzt die Premiere von „Prallen” auf dem Programm. Das Folkwang Tanzstudio präsentierte einen Zweiteiler, der Kühn mit neuen Mitteln
spielt.

Der Computer ist als Hauptwerkzeug bei den beiden Stücken eingesetzt. Aber es entsteht keine Kunst, der man es ansieht. Im Gegenteil, es ist ein Abend, der
aufregend menschlich abläuft. „Auch Georgien liegt am Meer” heißt das erste Stück, bei dem sich der Komponist Hahne von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt
am Meer” hat beeinflussen lassen.

Filmische Szenen werden manipuliert. Auf der Riesen-Leinwand im Hintergrund wabern Gesichter und Gestalten aus Hahnes Urlaub. Davor bewegt sich in strenger
Formation Henrietta Horns Crew.

Arme werden bis zur Erschöpfung geschleudert, man schmeißt sich auf den Boden. Irgendwann ist alles Rot, dann in Grün getaucht. Die großen, Computer-generierten
Klänge überrollen die Tänzer und Zuschauer. Musik, Bewegung, Klang treiben sich gegenseitig an. Choreographie und Komposition sind mit sicherem Gespür für
theatralische Effekte aufeinander eingegangen.

Ein wunderbarer Tanzabend: Henrietta Horn inszeniert höchst komisch „Der Hahn ist tot”

WZ, 7. Juni 2003
Bettina Trouwborst

Federleicht gibt sich das neue Tanzstück „Der Hahn ist tot” der Leiterin des Folkwang Tanzstudios Henrietta Horn, das mit einer Arbeit des Medienkünstlers und
Komponisten Dietrich Hahne Uraufführung in der neuen Folkwang Aula feierte. Henrietta Horn, nach wie vor einer der wenigen Erfolg versprechenden deutschen
Nachwuchschoreografinnen, ist kaum wieder zu erkennen.

Das liegt nicht daran, dass sie erstmals mit dem Medium Video arbeitet. Bislang bekannte sie sich zum reinen Tanz in bewährter Folkwang-Tradition, lieferte
ruhige, nochmusikalische Konzentrate ab. Diesmal inszeniert sie ein bewegtes „Lustspiel der bürgerlichen Art”. Vor lauter Übermut verwandelt sich die exzellente
Compagnie in einen Hühnerhaufen. Die Künstlerin beweist ein erstaunliches inszenatorisches und komisches Talent - auch wenn’s mitunter ein Balance-Akt zur
Albernheit ist.

WAZ, 7. Juni 2003

Michael Kohlstadt

Auch Ensemblechefin Henrietta Horn arbeitet mit Videos. Sie folgt dem Modetrend nicht nur stur, sondern verknüpft dieses Medium kongenial mit dem Tanz. In ihrem
höchst amüsanten Stück „Der Hahn ist tot” geht es natürlich um Tiere. Henrietta Horn lässt ihre bravouröse Truppe mit übergroßen Dackeln auf der Leinwand
tanzen- einer von vielen herrlichen Einfällen der jungen Choreographin, die sicher zu den talentiertesten in Deutschland zählt.

Tanz- und Videoabend „Prallen”: Von Wellen verschluckt

PRINZ Ruhrgebiet, Juli 2003

Eine Reihe schwingender Video-Dackel und ein echter Tänzer im Hundegleitschritt: Diese Polonaise ist der schräge Höhepunkt des Stückes „Der Hahn ist tot”.
Henrietta Horn gesteht: „Eigentlich fand ich Dackel bisher nicht besonders attraktiv.” Die Leiterin des Folkwang-Tanzstudios in essen hat das bemerkenswerte
Talent, aus Dingen, die ihr nicht besonders am Herzen liegen, wunderbare Choreographien zu formen. Bereits vor zwei Jahren gelang ihr mit „Lakenhal” ein
bestehendes Flandern - Porträt, ohne zuvor glühender Fan dieses Landstrichs gewesen zu sein. Jetzt also Dackel. In „Der Hahn ist tot” spielt die Choreographin
ebenso locker wie skurril mit den Elementen Film, Tanz, Musik und Schauspiel. Das Ergebnis: rund 30 unterhaltsame Theaterminuten über drei Fundamente
bürgerlichen Lebens: Hunde, Sport und Streifentapeten. Horns turbulente Revue bildet den Abschluss des Tanz und Videoabends „Prallen”, den das
Folkwang-Tanzstudio (FTS) zusammen mit dem Institut für Computermusik und Elektronische Medien (ICEM) entwickelte. Den Anfang macht „Auch Georgien liegt am Meer”, ein Stück des Komponisten und Medienkünstlers Dietrich Hahne. Dabei wird ein Paar nach und nach Teil seiner eigenen Erinnerung. Filme vergangener
Urlaubsidyllen laufen durch den weiß ausgeschlagenen Bühnenraum. Italien, Dänemark, Wellen, Dünen. Die Tänzer, ebenfalls hell gekleidet, geraten als lebende
Projektionsflächen unweigerlich in den Sog einer mächtigen Bild- Ton- Performance.