Schicht um Schicht
Mit Ablicht nimmt Henrietta Horn Abschied
Tanzjournal 4/08, Hartmut Regitz

Coda hätte die Choreographie ursprünglich heißen sollen. Jetzt nennt sie sich Ablicht, und ihre Eröffnungssequenz hat in der Tat etwas von einer Fotografie: wie abgelichtet sehen sich die Tänzer im Schauspielhaus Bochum mit ihren Zuschauern konfrontiert – erstarrt im Schmerz und doch im Innersten so bewegt, dass es dem Publikum nicht verborgenen bleibt. Die Lippen fest geschlossen, haben sie die Melodie zunächst noch gut im Griff. Doch die gemeinsame Musik lässt sich nicht ewig unterdrücken, und nach einiger Zeit kämpft sich der Klang denn auch aus ihren statischen Körpern endlich frei: ein choreographisches Crescendo, das zum Abschied von Henrietta Horn beim Essener Folkwang Tanzstudio erst einmal richtig Atmen schöpft, bevor es den Raum „besetzt”.
Kein Rausschmeißer also. Schon gar nicht ein Tanz, der auf die Tränendrüsen drückt. Vielmehr ein „Generationenstück”, wie Horn sagt, das die Beweggründe der jungen Ensemblemitglieder gewissenhaft erforscht: nicht auf eine anheimelnd anekdotische Art, sondern eher assoziativ – eine Arbeit, die das Besondere jeder einzelnen Persönlichkeit Schicht um Schicht entdeckt. Da ist Marcela Ruiz Quintero beispielsweise, die sich sehr weich und weiblich am Boden windet, traumversunken und doch ganz bei sich, sobald sie ihre Energie mobilisiert. Und da ist Kim Sokolowski, der Mann im braunen Anzug, der nach geraumer Zeit auf ihre geballte Kraft reagiert: kantig, eckig, fast ein wenig verkrampft, ja verschüchtert.
Immer hektischer werden die Atemzüge Horns. Zwischendurch hat Ablicht, choreographiert zu Musik von Flat Earth Society, NAFT, David Darling und Peter Giger, etwas von einer rasanten Revue, aus der sich immer wieder Soli schälen – etwa eine schier surrealistische Szene, wenn Ines Fischbach ihre Frisur übers Gesicht fallen lässt, so als wollte sie sich hinter einem haarigen Vorgang verbergen. Doch dieses verblüffende Versteckspiel ist nur von kurzer Dauer. Immer wieder anders fühlt die Choreographin aus ihren Tänzern eine Bewegung heraus, die zwar nicht immer einsichtig ist, einen aber noch lange beschäftigt.
Ganz offen sind sie alle, wenn sie nach der Pause wiederkehren. Sieben Jahre ist Auftaucher alt, und das Stück hat nichts von seiner Sinnlichkeit verloren. Horn konkretisiert ihre Geschichten allein in den Körpern aller Beteiligten – und vom „rasselnden” Klang getrieben, lassen sie sich auf Korrespondenz und Konfrontation ein, die nicht gar so alltäglich sind, wie sie dem Publikum zunächst erscheinen. Man kann nur hoffen, dass Horn wiederauftaucht – Choreographen wie sie braucht unser Land.

Stille Ekstase
In Bochum zeigte Henrietta Horn am Wochenende als Uraufführung „Ablicht” und das 2001 entstandene Stück „Auftaucher” – Das Publikum dankte mit begeistertem Applaus
WAZ Kultur, Gudrun Norbisrath, 30. Juni 2008

Das hat der Tanz mit dem Fußball gemeinsam: Leidenschaft. Beim Tanz wissen das nur noch nicht alle, schon deshalb ist es gut, dass das Bochumer Schauspiel vor zwei Jahren „tanzBO” als Kooperation mit dem Essener Folkwang Tanzstudio eingerichtet hat. Jetzt gab es in dieser Reihe zum ersten Mal eine Uraufführung, und sie war wie der Sommer-Freitagabend: leicht, berauschend und zitternd vom Wechsel aus Wärme und sachter Kühle.
Natürlich ist Tanz nicht nur Leidenschaft; Tanz ist Form und zugleich ihre Aufhebung; ist Raserei, Lust, Begierde und Melancholie, aber auch Zeremonie und Strenge. Tanz erzählt Geschichten vom Leben auf besondere, intensive Art.
... „Ablicht”: der Titel ist rätselhaft, doch das Stück ist von lichtvoller Klarheit. Es erzählt die alte Geschichte von Leben und Liebe.
Sieben Tänzer schauen dem Publikum ins Gesicht. Drei Männer, vier Frauen. Sie stehen aufrecht und fest, auf ihnen ruhen Licht und Schatten. In eine große Stille hinein schwingt etwas wie Summen, eine Stimme, viele Stimmen, das Summen bekommt einen Rhythmus, etwas wird skandiert; was? Instrumente mischen sich fern in diesen anschwellenden Chor, und wären da nicht ein paar sorglose Huster im Publikum, man würde fortgezogen zu den Sternen. So aber denkt man erbost, dass in Bayreuth dergleichen mit Teeren und Federn bestraft würde. In Bochum siegt immerhin doch noch der Respekt vor der Kunst, und ein Crescendo der Stimmen kann sich erheben und etwas ganz Erstaunliches erfahrbar machen: Emotion, mitgeteilt von reglosen Körpern. Das plötzlich wieder Stille eintritt, ist ein Schock.
Ihn löst stoßweises Atmen. Hecheln. Wieder Summen und endlich Bewegung, fast schmerzlich hat man sie erwartet. Einer tritt aus der Reihe, ruckt wie ein Roboter, eine Frau folgt, aber sie tanzt. Endlich! Die Reihe bekommt in Bewegung: Aufrücken, Zusammenschließen, Lücken lassen. Sie tanzt, meditativ, es ist ein Winden, der Mann sieht zu; dann er: zuckend, hampelnd. Sie weist ihn zurück, und Atmen und Hecheln, dann birst die Compagnie in großer Lust. Sieben großartige Tänzer, sieben Soli gleichzeitig. Und plötzlich ist da nur noch die Eine, Strenge; sie hat das blonde Haar gelöst, sehr sanft klingt ein Cello, sie zuckt wie im Kampf, wie in Ekstase. Se wirkt verletzt, erst recht, als sie langsam die Haare aus dem Gesicht streicht und fortgeht.
Sie tanzen die Annäherung. Eine Frau, lasziv wie eine Wasserpflanze. Ein Mann, gurgelnd wie ein liebeskranker Frosch. Einer fasst eine Frau, sie wehrt ab; die anderen sehen wissend ins Publikum. Wechselndes Licht, die Bühne ist ein sanftgrünes Unter-Wasser. Oder blauweißschwarzkalt. Ausweichen, Besitz Ergreifen, Zuschlagen, Weggehen. Und immer bricht es ab und es bleibt der hörbare Atem, der sichtbare Stillstand. Was ist das? Kalkulation, Emotion. Kraft, die sich binden lässt; Sentiment, das seinen Ausdruck sucht.
„Auftaucher” ist anders. Es hat das selbe Themas wie „Ablicht”: Lieben, Leben, Atmen, Tanzen. Aber es ist jünger, schneller, aggressiver. Heißer. ...

Die grandiosen Augenblicke sind getrübt vom Wissen, dass es das letzte Tanzstück war, das Henrietta Horn im Ruhrgebiet kreierte. Sie wird Essen noch im Sommer verlassen. Der Schlussapplaus weiß ihr Dank: Er hebt das Dach.