„Neuer Neuer Neuer Tanz“

Choreographie: Michiel Vandevelde

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Foto: Christian Clarke
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Foto: Ursula Kaufmann
For English version please click here Wie können wir uns die Zukunft des zeitgenössischen westlichen Tanzes vorstellen? Oder ist es an der Zeit ihn als Relikt des 20. Jahrhunderts zu archivieren? Das Folkwang Tanzstudio, von Kurt Jooss 1928 gegründet, blickt selbst auf eine Geschichte der Erneuerung des europäischen Tanzes zurück. Eine Historie wird mit der Zeit zum Erbe. Wie lassen sich die lebendigen Körper des Ensembles zu diesem Erbe verorten. Wie kann ein Archiv in Bewegung gesetzt werden um aus ihm eine Erneuerung des Tanzes hervorzubringen? 'Neuer Neuer Neuer Tanz' erkundet eine spekulative Zukunft des Tanzes. Dabei werden sowohl die Zeitgenossenschaft als auch die Sehnsucht nach dem Neuen hinterfragt. In einer wilden Choreographie, werden Erinnerungen an vergangene Tänze aufgerufen, um den Tanz im 21. Jahrhundert zu befragen.
Choreographie: Michiel Vandevelde Tanz: Baptiste Bersoux, Yi-An Chen, Maria Giovanna Delle Donne, Stsiapan Hurski, Jihee Kim, Giuseppe Perricone, Darko Radosavljev, Pierandrea Rosato, Narumi Saso, Marianne Verbecq Musik: Eva Reiter, Edgard Varèse, Frank Zappa Kostüm: Heide Vanderieck Licht, Bühne: Michiel Vandevelde Assistenz: Mario Barrantes Espinoza Feedback: Jonas Leifert, Kristof van Baarle Dauer: ca. 60 Minuten Uraufführung: 10. Mai 2019, PACT Zollverein, Essen im Rahmen des Festivals "tanz nrw 19" Produktion: PACT Zollverein, Folkwang Tanzstudio
WAZ, 16. Mai 2019 Tanz mit atemberaubender Eindringlichkeit ...Sechzig Minuten aufregender Tanz. Man bleibt wie erschlagen zurück. Viel Applaus! Dagmar Schenk-Güllich
Michiel Vandevelde studierte Tanz und Choreographie bei P.A.R.T.S. in Brüssel. Er arbeitet als Choreograph, Kurator, Autor und Redakteur. Er unterstützt die Redaktion des Disagree. Magazins und schreibt Artikel für print und online Zeitungen und Zeitschriften wie Etcetera, De Witte Raaf, Rekto:Verso und Mister Motley. Von 2017 bis 2021 ist er Artist in Residence am Kaaitheater in Brüssel. In seiner künstlerischen Arbeit spürt er Elementen nach, die unsere öffentlichen Räume hervorbringen oder zersetzen. Er entwickelt soziale, ökonomische und kulturelle Alternativen um dominierende Strukturen und Sichtweisen zu hinterfragen, herauszufordern und zu transformieren. Eine Vielzahl von Projekten entwickelte Michiel Vandevelde im öffentlichen Raum und für Kunstinstitutionen. © Danny Willems

EIN TANZ ZWISCHEN "GESELLSCHAFT UND "UMWELT"

Michiel Vandevelde im Gespräch mit Anna Siegel (Mai 2019)    Ihre Arbeit 'Ends of Worlds' wurde kürzlich (Ende April 2019) in Brüssel uraufgeführt, nun folgt 'Neuer Neuer Neuer Tanz' mit dem Folkwang Tanzstudio. Beide Stücke beschäftigen sich mit der Zukunft. Gibt es zwischen den Arbeiten eine Verbindung? Ja. In 'Ends of Worlds' habe ich einen Rahmen geschaffen, der den Betrachter eine mögliche Zukunft imaginieren lässt. Aus dieser Zukunft fällt der Blick zurück in die Vergangenheit. Dort untersuchen die Darsteller*innen, wie der 'graue Planet', auf dem sie leben, entstanden ist. Konkret wird das 20. Jahrhundert erforscht, und noch spezifischer: wichtige Momente der westlichen Tanzgeschichte im 20. Jahrhundert. Sie werden als Materialien aus der Vergangenheit verwendet, durch die wir verstehen könnten, wie die Menschen, die uns vorausgingen, ihre Welt erlebten: wie sie kämpften, liebten, Konzepte wie Gemeinschaft verstanden, und so weiter. Und wie wir als Betrachter*innen, (in der Zukunft) selbst zu einem grauen Planeten kommen werden. 'Neuer Neuer Neuer Tanz' beginnt dort, wo 'Ends of Worlds' endet. Das letzte Bild von 'Ends of Worlds' zeigt die Darsteller*innen als vier Prototypen des "organischen Menschen", leblos auf der Bühne liegend. Sie haben alle Datensätze, auf denen ihre Programmierung basierte, ausgeführt. Sie haben ihren Zweck erfüllt und sind nunmehr nutzlose Überbleibsel, die für ein neues Experiment recycelt werden können. In 'Neuer Neuer Neuer Tanz' werden diese übriggebliebenen Prototypen der "organischen Menschen" wieder zum Leben erweckt und beginnen, die Welt erneut aufzubauen und einzunehmen. Sie wechseln zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Tanzmaterialien von 'Ends of Worlds' kehren zurück, aber dieses Mal sind sie gewissermaßen vollständig verinnerlicht, geradezu als wären sie gegessen und verdaut und würden nun als eine ganz neue Version wieder ausgespien. Die Prototypen wechseln hin und her, und während sie die Welt zurückerobern - vielmehr eine neue Welt erschaffen - sehen wir, wie sie eine eigene Handlungsmacht erlangen. Sie beginnen sich zu verformen, das Grau verschwindet und Farben treten hervor, sie beginnen, die Maschinen in sich zum Tanzen zu bringen, und tanzen so das Virtuelle, das Programmierte aus ihren Körpern heraus. Die Prototypen des "organischen Menschen" übernehmen die Kontrolle über sich selbst, und entziehen sich der Dominanz des hoch-optimierten Menschenideals der Zukunft. 'Neuer Neuer Neuer Tanz' wurde gemeinsam mit den Tänzer*innen des Folkwang Tanzstudios entwickelt. Ein Ensemble mit großer Historie, das 1928 von Kurt Jooss gegründet wurde. Kurt Jooss gilt als Pionier in der Tradition des Tanztheaters. Sie haben vorhin auf ein Archiv von Tanzmaterialien verwiesen, die Sie als Referenz für Ihre Choreographie verwenden. Von welchem Archiv sprechen wir? Wie sind Sie damit in ' Neuer Neuer Neuer Tanz' umgegangen? Die tänzerischen Materialien von 'Ends of Worlds' und 'Neuer Neuer Neuer Tanz' basieren weitestgehend auf den gleichen Aufnahmen. Die Videos, die wir als Ausgangspunkt verwenden, beziehen sich auf wesentliche Momente im westlichen Tanz des 20. Jahrhunderts. Denken Sie an Isadora Duncan, Kurt Jooss, Anna Halprin, Steve Paxton, Trisha Brown. Oder an den breiteren deutschen Expressionismus und seine späte Verbindung zu Butoh oder auch den aktuellen Einfluss der digitalen Sphäre auf den Tanz. So bat ich die Tänzer*innen des Folkwang Tanzstudios - gewissermaßen nach einem Copy-Paste-Verfahren - bestimmte Bewegungen aus einer Sammlung von Videos auszuwählen und daraus eine "einfache" Sequenz zu bilden. Diese Tanzsequenz - jede*r Tänzer*in hat eine individuelle Sequenz - wurde wiederum mit verschiedenen choreographischen Parametern überarbeitet, sodass wir daraus Variationen entwickelten, die von den "einfachen" Sequenzen ausgehen. In diesem Stück wollte ich eine Art Entwicklung nachzeichnen, die von den sehr "menschlichen", analytischen und nach oben gerichteten Bewegungen zu mehr "Kritter"-artigen Bewegungen¹ gelangt, die sich nach unten orientieren. Während des Entwicklungsprozesses dachte ich an einen sozialen Tanz, ein (politisches) Ritual, das zukünftige Wesen ausführen könnten. Eine Art Tanz, der einerseits sehr individuell und gleichzeitig kollektiv ist. Ein Tanz, der auch an "deformierte" Körper angepasst ist - ein Ergebnis der toxischen Umgebung, in der die zukünftigen Wesen leben und auf die sie sich einstellen mussten. Aber nun zum Archiv. In ' Neuer Neuer Neuer Tanz' verstehen wir das Archiv als mehr als nur eine Referenz für den zeitgenössischen westlichen Tanz. Wenn das Publikum den Raum betritt, sieht es das gesamte Archivmaterial in kurzen Sequenzen aufblitzen: Man sieht Bilder und kurze Videoaufnahmen, die zusammen die Ausgangspunkte dieses Stückes bilden. Es sind sowohl zeitgenössische westliche Tanzreferenzen aus dem 20. Jahrhundert als auch Pop-Videoclips, aber ebenso Videos von Fetischen aller Art und einige historische Aufnahmen von Katastrophen des 20. Jahrhunderts. All dies bildet also den Horizont, vor dem dieses Stück aufgeführt wird. Dieses Archiv wird vielmehr zu einem (persönlichen) Bewusstseinsstrom, der ein hektisches, unlogisches Bild unserer Gegenwart zeichnet. Was ich mir vorstelle, ist: Was passiert, wenn genau diese Materialien das Archiv wären, das gerettet wird, das viele Jahrhunderte übersteht und an zukünftige Wesen weitergegeben wird? Wie würden sie das interpretieren? Wie würden sie unsere heutige Zeit und die jüngste Vergangenheit lesen? Wie Ihre bisherigen Bühnenarbeiten besteht 'Neuer Neuer Neuer Tanz' aus verschiedenen Ebenen, die ganz eigene Anknüpfungspunkte in das Werk einbringen. In dieser Arbeit scheint die Musik sehr wichtig zu sein. Wie kamen Sie zu den musikalischen Entscheidungen? Die Musik erzählt ihre ganz eigene Geschichte. Zu Beginn des Probenprozesses hatte ich ein Album, von dem ich sicher war, dass es für die Absichten und Intuitionen dieses Werkes richtig war. Es war 'Dance Me This' von Frank Zappa. Er stellte es kurz vor seinem Tod 1993 fertig und es wurde erst 2015 veröffentlicht. Zappa hatte damals in eigenen Worten vorgehabt, dass dieses Album für "jede moderne Tanzgruppe verwendbar sei". Es ist ein seltsames Album, das sich auf Varèses "Poème Électronique" und Strawinskys "Frühlingsriten" bezieht, aber auch auf tuwinischen Kehlkopfgesang. Es ist ein eklektisches Album, das sich zwischen Hoch- und Populärkultur bewegt und eine geradezu jenseitige Atmosphäre schafft. Es passte einfach genau zu Allem, wonach ich in der Choreographie gesucht habe. Doch gerade, als ich die Choreographie zum kompletten Album von 'Dance Me This' fertiggestellt hatte, bekam ich das Gefühl, dass etwas fehlte. Eine Art roter Faden, eine Beziehung zur Vergangenheit und zur Gegenwart. So sind anschließend die Teile eins und zwei des Stückes entstanden. Im ersten Teil hören wir eine kurze Komposition von Eva Reiter, einer jungen Komponistin und unglaublichen Musikerin der Gegenwart. Und im zweiten Teil hören wir 'Poème Électronique' von Edgard Varèse. Wir hören also drei (Geschichts-)Perioden, obwohl ich sie in dem Stück nicht chronologisch spiele. Es sind drei Kompositionen, die einerseits historisch und andererseits ihrer Zeit voraus sind. Jedes Kapitel der Choreographie reagiert auf die Musik. Im ersten Teil sehen wir leblose Körper, die Abwesenheit von Bewegung, die Abwesenheit von Bewegungswillen. Im zweiten Teil spulen wir zurück. Wir sehen eine etwas geradezu fremdartige Choreographie, die auf populären Videoclips unserer Zeit basiert (denken Sie an 'Gangnam Style', 'Single Ladies', etc.). Diese Choreographie wird begleitet von Varèse, und erscheint, in Kombination mit diesem Werk aus der Geburtsstunde der elektronischen Musik, geradezu falsch: wir blicken auf die Vergangenheit, die zugleich unsere Gegenwart ist, aber das mit einer Choreographie, die schlichtweg falsch erscheint. Und dann kommen wir zu Frank Zappas Komposition, die irgendwie mit einer geradlinigen, sprunghaften Choreographie beginnt, die sich auf den choreographischen Stil der 80er Jahre bezieht. Und dann tauchen wir ein in die Zukunft dieser deformierten Körper, die in einem neuen sozialen Tanzritual zusammenfinden. Es ist interessant, dass Sie über zukünftige, soziale Rituale nachdenken. Für mich gibt es etwas Dämonisches im Tanz, als ob etwas vertrieben werden müsste. Ich sehe viel Individualität im Stück, einzelne Stimmen, die tanzen, aber oft ohne einen Sinn dafür, was es bedeutet, zusammen zu sein. Es scheint, als würden sie versuchen, sich von sich selbst zu befreien und so Teil von etwas anderem zu werden, aber nie ganz dort ankommen. Ich bin nicht so sehr an dem Moment des Ankommens interessiert, sondern mehr an dem Prozess, dem Kampf und den Konflikten. Im Stück 'Paradise Now (1968 - 2018)' ging es mir sehr stark darum, im Sinne Donna Haraways "unruhig zu bleiben". Ihre Schriften waren sehr wichtig für mich. Auch in 'Neuer Neuer Neuer Tanz' gibt es diesen Versuch, unsere Vergangenheit zu überwinden - und man sieht auch, wie wir daran scheitern, wie schwer es ist, eine Verbindung zueinander zu finden. Eine der zentralen Fragen unserer Zeit, die wir nicht lösen können ist: Wie können wir miteinander leben, in einer Welt, die so verworren ist, und zu der wir keinen einfachen Bezugsrahmen finden können? Das bildet auch einen roten Faden in 'Ends of Worlds', wo im Epilog Débora Danowski und Eduardo Viveiros de Castro zitiert werden: "Maybe, to speak of the end of the world is to speak of the need to imagine, rather than a new world to replace our present one, a new people, the people that is missing. A people who believes in the world, that it will have to create with whatever world we will have left them." Eine der Ebenen von 'Neuer Neuer Neuer Tanz' bildet der Versuch, auf diesen Gedanken zu reagieren. Es ist interessant, sich den Moment vorzustellen, in dem die Konzepte von 'Mensch' und 'Umwelt' unweigerlich zusammenfallen - ich stelle mir ihn vor und arbeite mit dieser Vorstellung. Oder anders ausgedrückt mit dem Moment, in dem 'Gesellschaft' und 'Umwelt' nicht länger als zwei verschiedene Konzepte betrachtet werden können. ¹ Mit dem Oberbegriff "Kritter" bezeichnet die Philosophin Donna Haraway in ihrem Buch "Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän" die nicht länger voneinander abgegrenzte Einheit aller Wesen, Getiere und Kreaturen - unabhängig davon, ob sie menschlich, pflanzlich oder tierisch sind. Der "Kritter" ist damit nicht mehr klar einer Spezies zugeordnet.
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