Urs Dietrich im Interview

Während der Proben zur Neueinstudierung von „Sanguis“ mit dem Folkwang Tanzstudio sprach Maiken-I. Groß (Pressesprecherin Folkwang Universität) mit Folkwang Alumnus Urs Dietrich

Groß: Herr Dietrich, Sie sind Tänzer und Choreograph. Aber ich habe gelesen, dass Sie ursprünglich als Textildesigner begonnen haben. Wie sind Sie denn eigentlich zu Folkwang gekommen?

Dietrich: Ich komme aus der Schweiz. Da habe ich die Kunstgewerbeschule besucht und Textildruckdesign gelernt. Ich habe jeden Tag entworfen in einem sehr guten Atelier. In der Zeit habe ich mich auch mit den Fragen beschäftigt, was das Leben ist. In der Mode oder in dem Beruf ist es so: Was heute gut ist, ist morgen schon vorbei. Und ich habe natürlich etwas gesucht, was mehr Substanz hat, was über den nächsten Tag hinaus wirkt. Dadurch bin ich zu Yoga gekommen und habe dann auch Yogaunterricht genommen. Dadurch wurde bei mir das Körperbewusstsein geweckt und ich wollte mehr machen, mehr machen, mehr machen. Nach längerem Zögern bin ich dann in ein Tanzstudio gegangen, ein privates Studio. Die Lehrerin dort war Romy Raas-Bickel, die in St. Gallen ein Tanzstudio hatte. 35 Jahre zuvor hatte sie in der Folkwangschule ihre Ausbildung gemacht. Nach einem Training hat sie mich dann sofort zu sich genommen und riet mir, wenn ich das ernst meinte, dann müsste ich mich schon beeilen. Der damalige Leiter (der Folkwang Tanzausbildung) Hans Züllig war Schweizer und wohnte in Rorschach, direkt neben St. Gallen. Es war gerade Februar und bald begannen die Osterferien. Romy sagte: „O.k., dann ruf ich den Hans Züllig an, er soll mal vorbeikommen und dich anschauen.“ Wir haben eine Stunde alleine geprobt und dann hat er gesagt: „O.k. Junge, komm mal vorbei.“ Und so habe ich dann im Herbst 1981 hier an der Folkwangschule angefangen. Zwar erst für ein halbes Jahr und dann für ein weiteres halbes Jahr, und ich bin immer noch beim Tanz.

Kannten Sie Hans Züllig vorher schon oder war Ihnen „Folkwang“ bereits vor 1981 ein Begriff?

Nein überhaupt nicht. Ich habe nie geglaubt, dass ich diesen Beruf überhaupt machen würde. Meine Familie ist nicht so künstlerisch. Ich habe in der Zeit am Stadttheater als Statist gearbeitet. Die Bühne hat mich immer fasziniert. Wie die Leute ihre Emotionen ausleben können, das hat mich immer wahnsinnig fasziniert. Und dann habe ich gesehen, wie Tänzer ihre Körper beherrschen können, und das wollte ich einfach auch.

Wie war das, bei Hans Züllig zu studieren?

Es war sehr schön, er war für mich wie mein zweiter Vater. Die ersten drei Wochen habe ich auch bei ihm gewohnt. Er hat mich schon ziemlich gefördert. Ich habe ihm wahnsinnig viel zu verdanken, weil ich schon sehr alt war (Anmerkung der Redaktion: 23 Jahre). Was bei ihm einfach toll war, er hat - egal was war - regelmäßig Unterricht gegeben. Und richtige Korrekturen gegeben, man hat richtig geschuftet. Vielleicht war es auch meine Einstellung, weil ich wollte -  ich wollte und ich hab auch geschuftet. Auf jeden Fall war er für mich eine ganz wichtige Figur.

Es gibt dieses berühmte Zitat von Züllig: „Wir unterrichten Tanz, der motiviert, aufrichtig und undekoriert ist“. Wie würden Sie persönlich das beschreiben, was Züllig Ihnen beigebracht hat oder wie verstehen Sie Folkwang Tanz?

Eigentlich betrachte ich nichts in Schablonen, das müssen andere Leute machen. Ich mache einfach, ich bin sehr menschlich aus dem Bauch heraus. Einfach das machen, was für mich richtig ist und da gehe ich durch. Bei Hans Züllig hat man Präzision gelernt und die Beinarbeit, die Form und interessante Kombinationen und er hat auch sehr viel freigelassen. Aber wenn er dann kontrolliert hat, hat er richtig reingehauen. Ich habe natürlich auch schon ein bisschen Ambitionen gehabt, auf die Bühne zu wollen, obwohl ich auch riesengroße Angst hatte.  Aber irgendwie hat mich dieser Ort immer fasziniert. Ich habe damals mit Jungchoreographen gearbeitet, z. B. mit einem Italiener. Züllig hat danach immer sein Urteil gegeben. Die Urteile waren immer sehr streng und das war auch richtig so.

Jetzt fiel gerade das Stichwort „Junge Choreographen“. Wie war denn die Stimmung im Studium Anfang der 80er Jahre? Wer waren Ihre Kommilitonen? Mit wem haben Sie zusammen probiert?

Am Anfang haben wir ungefähr zwölf Männer gehabt. Wir waren 30 Leute in der ganzen Klasse. Es gab einen Italiener – Enzo Piconio. Nach dem 3. Monat schon sagte er: „Wir machen etwas im Tanzsaal.“ Aber das war total unüblich. Damals gab es diese Jungchoreographen überhaupt nicht. Nur am Schulabend hat vielleicht jemand aus den höheren Klassen etwas gemacht. Ich habe dann auch ein Solo gemacht: „Hiob“, das zunächst einmal im Saal gezeigt wurde. Alles wurde immer ganz streng beurteilt, bis es auf die Bühne kam. Was jetzt los ist, das gab es damals noch nicht. Es ist komisch, wenn ich so rede, aber es ist natürlich auch schon 20 Jahre her.

Können Sie sich erinnern, wie der Kontakt zu anderen Folkwang Studierenden - also aus der Musik oder dem Theaterbereich - gewesen ist? Die Gestalter waren damals ja schon nicht mehr hier in Werden.

Nein, ich weiß es nur von Susanne Linke und von Reinhild Hoffmann sowie von der Generation vor mir. Sie haben mir erzählt, dass sie sehr viel mit Fotografen, mit Filmleuten oder Grafikern und Bühnenbildnern zusammen gearbeitet haben. Aber bei uns war das nicht so, ich habe immer alleine gearbeitet.

1985 haben Sie den Kurt-Jooss-Preis gewonnen. Was bedeutet Kurt Jooss für Sie?

Ich habe ihn nie persönlich kennen gelernt, ich kenne ihn nur von Erzählungen von Hans Züllig, von Susanne Linke oder von Reinhild Hoffmann. Er hat die ganze Tanzabteilung hier geschaffen, da muss man ihm schon danken. Er hat auch den Tanz sehr vorwärts gebracht, indem er den Tanz eben sehr vermenschlicht oder in den Alltag hineingebracht hat. Und natürlich sind seine Stücke großartig, „Grüner Tisch“ oder „Moor´s Pavane“ oder „Großstadt“. Es sind tolle Choreographien, die natürlich auch sehr inspirierend sind.

Nach Ihrem Studium - ich weiß nicht, ob es direkt 1985 war - haben Sie die Arbeit mit dem Folkwang Tanzstudio (FTS) begonnen. Gab es da direkten Kontakt mit Pina Bausch?

Nein, nein, Pina Bausch war in Wuppertal. Ich konnte – eben auch durch glückliche Zufälle – schon während meiner Schulzeit im Folkwang Tanzstudio mitmachen. Das wurde damals von Susanne Linke geleitet. Ich konnte schon im ersten Schuljahr mitmachen. Christine Brunel hat eine Choreographie gemacht, auch Mitsuro Sasaki hat eine Choreographie gemacht, und diese konnte ich immer mitmachen. Das war natürlich großartig. Nach der Ausbildung war ich dann ein Jahr im Folkwang Tanzstudio. Danach habe ich frei gearbeitet. Aber wie es genau gekommen ist, dass ich nicht im FTS weitergemacht habe, weiß ich gar nicht mehr.

Jetzt arbeiten Sie wieder mit dem Folkwang Tanzstudio. Wie erleben Sie das FTS heute. Hat es sich verändert? Abgesehen davon, dass es jetzt natürlich andere Menschen sind.

Ja, es sind natürlich andere Menschen. Ich finde, der Geist ist sehr gut, die Tänzer haben wahnsinnig viele Informationen. Heutzutage hat sich der Tanz sehr geöffnet. Es ist auch wichtig, dass ein Tänzer nicht nur Schubladen oder eng sieht. Sie sind technisch sehr viel besser geworden.

Meinen Sie mit „Informationen“ den intellektuellen, kulturellen Background oder sind das technische Informationen?

Es ist beides. Es sind Informationen, die ausdrücken, was der Körper ist. Man hat so viel Trainingsmöglichkeiten heute und auch ein anderes Körperbewusstsein und die Spannung. Man sieht heute so viele Sachen. Jeden Tag könnte man sich eine Tanzvorstellung angucken. Und es ist ja nicht nur das, was man hier in der Stadt sieht, sondern man sieht es auch im Ausland, man sieht es durch das Internet zu Hause am Bildschirm und es gibt überall Festivals. Man kann dort hingehen und man ist voll informiert über alles. Und es geht auch über die Grenzen hinaus. Wir wissen, was in Asien passiert. Wir wissen, was in Amerika passiert. Es ist ein wahnsinniger Informationsreichtum.

Sie arbeiten jetzt aktuell mit dem Folkwang Tanzstudio „Sanguis“, ein Stück, das Sie 1991 für das FTS auch kreiert haben. Warum jetzt noch einmal „Sanguis“? Wie ist es dazu gekommen?

Lutz Förster (Anm. d. R.: Künstlerische Leitung FTS)hat mich gefragt, ob ich das machen würde. Ich hatte es in Bremen mit meiner Kompanie 2002 schon einmal aufgenommen und auch eine andere Version gemacht. Es war ein ganz anderer Abend, mit „Flut“, einem Solo von Susanne Linke, und im Anschluss „Sanguis“. Das war ein Abend. Und jetzt hat mich Lutz Förster angesprochen und sagte, er möchte das gerne wieder sehen. Es ist ein ganz schöner Anlass, denn nächstes Jahr ist es genau 20 Jahre her. Nur jetzt wird es natürlich eine ganz andere Version werden. Ich mache nicht das Original, die Struktur schon, aber die Zeiten haben sich verändert. Ich bin nicht ein Mensch, der viel zurückschaut, sondern ich schaue erst, was jetzt ist. Ich habe mich weiter entwickelt, wie alles andere sich weiterentwickelt hat und versuche daraus etwas zu machen, was zur heutigen Zeit passt. Deshalb sage ich auch „Sanguis 2011“.

Sie sind jetzt mitten in der Arbeit. Kann man schon etwas darüber sagen, wie „Sanguis 2011“ wird? Was wird anders, als an dem Original “Sanguis“?

Früher im Original waren es 10 Leute, jetzt sind es 16 Leute. Es wird natürlich bewegungsmäßig und auch kostümmäßig ein bisschen anders sein. Szenenmäßig wird es zum Teil auch anders, es wird etwas komplexer sein. Wenn ich das Original anschaue, ist sehr viel Klischee enthalten. Für die damalige Zeit war es wahrscheinlich genau richtig. Aber jetzt, wenn ich ein Klischee nehme, berühre ich es nur kurz. Und es wird nur ganz schnell. Heute hat man eben – wie Sie wissen - alles ganz schnell im Blick und die Zuschauer haben ganz schnell verstanden. Deswegen kommen neue Sachen hinzu oder ich lasse Sachen auch weg.

Für diejenigen unserer Zuschauer, die vielleicht noch nie von „Sanguis“ gehört haben. Was für ein Stück ist das? „Sanguis“ heißt Blut, glaube ich? Worum geht es?

Es geht ums Leben. Um diesen Saft, der uns bewegt und der uns manchmal in Wallung bringt oder auch in Ruhe bringt. Es ist gleichzeitig wie ein Fluss. Es sind Szenen, wie alles ineinander läuft, Anfang und Ende, und Ende und Anfang ist fast gleich, es ist wie ein Kreislauf. Ja, es ist auch Bewegung, es ist ein Fluss, es ist Blut, aber es gibt natürlich kein Blut, man sieht kein Blut, man sieht nichts Rotes, es ist eine Metapher.

Sie sind als freier Tänzer und Choreograph unterwegs, haben über viele Jahre auch das Bremer Tanztheater geleitet haben, zum Teil mit Susanne Linke… Sie kennen sich bestens in der aktuellen Tanzszene aus. Was würden Sie sagen, wo geht es hin mit dem deutschen Tanz und wie sind die Folkwängler dabei aufgestellt?

Ja, das kann man heute nicht mehr so sagen: das ist Folkwang. Das hat sich alles so vermischt, und man kann nicht mehr sagen - wie früher - das ist wirklich der Stil von Folkwang. Folkwang hat sich weiterentwickelt und alles ist globalisiert. Und das ist natürlich heute der Nachteil. Ich finde manchmal, dass Persönlichkeiten oder eigene Handschriften irgendwie untertauchen, weil das Kopieren oder Nachmachen ganz schnell da ist. Die Tanzentwicklung wird nicht mehr nur von Kreativen geschaffen, sondern lebt auch sehr viel von Kuratoren, also von den Veranstaltern. Die machen die ganze Geschichte heute, was ich auch problematisch finde.

Wie schätzen Sie denn die Chancen von Folkwang-Absolventen auf dem aktuellen Markt ein, wenn ich das so fragen darf? Sie haben ja auch viele in Ihrer Kompanie.

Ich habe 7 von 10 Tänzern. Ich finde, Folkwang-Leute haben eben doch immer etwas Spezielles. Das kann man schlecht erklären, das geht immer nur, wenn ich die Leute sehe und wenn ich ein Vortanzen mache. Da kann ich sagen: ja, der ist durch Folkwang durchgegangen, weil es da eben eine Menschlichkeit oder irgendwas gibt. Es ist nicht so sehr aufgesetzt, man merkt, da ist irgendetwas, man versucht, die Bewegung von innen heraus zu bringen. Das kann ich manchmal bei Folkwang-Leuten sehr gut sehen.

Gibt es für Sie so etwas wie den idealen Tänzer, mit dem Sie am liebsten zusammen arbeiten?

Der ideale Tänzer…. Ich kann mit jedem arbeiten. Es kommt immer auf eine bestimmte Position an. Ich denke, jeder hat irgendetwas in sich drin. Ich kann auch mit Schauspielern arbeiten, da sie irgendetwas haben. Ich glaube, ich persönlich kann mit jedem etwas anfangen und bewirken, dass er gut aussieht auf der Bühne.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage. Sie sind in Ihrer Folkwang-Zeit auch eng mit Werden verbunden gewesen. Zumindest haben Sie eine ganze Weile hier gelebt. Gibt es einen Lieblingsplatz, von dem Sie sagen, das verbinde ich mit Werden und da gehe ich besonders gerne hin?

Ja, die Tanzsäle. Tanzsaal 1, Tanzsaal 2 und Tanzsaal 3. Da bin ich auch jetzt die meiste Zeit. Ja, da bin ich gerne. Denn außen herum hat sich schon einiges verändert.

Herzlich Dank für das Gespräch Herr Dietrich.

Das Gespräch wurde am 22. November 2010 im Pina Bausch Theater der Folkwang Universität der Künste geführt