Lakenhal

Ausgangspunkt für diesen Tanzabend war die Beschäftigung mit Flandern, dem nördlichen Teil Belgiens. „Lakenhal” entstand als Auftragsarbeit im Rahmen der Spielzeit 2000/01 „Der alte Kulturraum Flandern – Heute” der Kulturabteilung der BAYER AG.

Der Titel stammt aus dem Flämischen und ist die Bezeichnung für „Tuchhalle”. Im ausgehenden Mittelalter und mit dem Beginn der Neuzeit begründeten Leinenweberei und Tuchhandel für einen historisch gesehen kurzen Zeitraum Macht, Reichtum und Selbstbewusstsein der Bürger Flanderns. Die Blütezeit Flanderns brachte viele prächtig geschmückte Tuchhallen hervor, die noch heute das Stadtbild vieler Orte prägen.

Unser Nachbar, das Königreich Belgien, ist ein gespaltenes Land. Die Grenze bildet die Hauptstadt Brüssel. Der südliche Landesteil, Wallonien, ist sprachlich und kulturell frankophil ausgerichtet. Französisch ist die Amtssprache und auch politisch und wirtschaftlich orientieren sich die Wallonen eher am Nachbarn Frankreich. Flandern hingegen lässt sich kaum mit wenigen Worten charakterisieren.

Die Geschichte Flanderns ist weit älter als die des Staates Belgien. Der verhältnismäßig kleine Landstrich Flandern lag immer zwischen den Interessensgebieten der Großmächte und galt als Spielball ihrer Macht- und Gebietspolitik. So lässt sich Flanderns Historie am treffendesten durch die Begriffe „Fremdherrschaft” und „Unterdrückung” charakterisieren: Im 14. Jahrhundert burgundisch, im 15. habsburgisch, im 16. spanisch, dann österreichisch und unter der Herrschaft Napoleons französisch. Bedingt durch die wechselnden Herrscher waren die Flamen immer gezwungen, sich anzupassen und unterzuordnen. Zudem war Flandern auch immer ein Ort, an dem die umliegenden Staaten ihre Konflikte austrugen. So ist dieser Landstrich besonders häufig Kriegsschauplatz für „fremde” Auseinandersetzungen gewesen.

Trotz aller Fremdbestimmung und Unterdrückung bleibt Flandern als Kulturraum immer bestehen. Auch wenn dieser nie zu einem eigenständigen Staat geworden ist, haben die Flamen ein großes Bedürfnis der Abgrenzung von ihren Nachbarn. Der Versuch der Selbstbehauptung, das Streben und die Suche nach einer eigenen Identität sind die ständigen Begleiter der flämischen Geschichte.

Die Flamen sind lebenslustige Menschen. Sie haben Lebensart und können genießen. Wirtschaftlich gesehen haben sie es in den letzten Jahrzehnten geschafft, aus dem Schatten der frankophilen Wallonie herauszutreten. Mit Elan und Innovation hat Flandern sich zu einer Wohlstandsregion Europas entwickelt. Die Flamen sind sich ihres kulturellen Erbes, ihres wirtschaftlichen Erfolges und der Attraktivität ihres Landes bewusst. Dieses Selbstbewusstsein ist im heutigen Flandern immer mehr zu spüren.

„Hier stehe ich nun und kann nicht anders”
Zitiert aus „Notizen eines Flamen” von Luc Devoldere

Wer bin ich? Flame oder niederländischsprachiger Belgier? Die Antwort lautet nicht „entweder – oder”, sondern „sowohl – als auch”. Mal nenne ich mich Flame – aber fühle ich mich dann auch als Flame? Ein anderes Mal stellt sich heraus, das ich Belgier bin: wenn der König stirbt oder die Nationalmannschaft spielt. Die Reihenfolge liegt nicht fest. Ein Mensch hat nun einmal mehrere Identitäten, die er wie Kleidungsstücke in verschiedenen Situationen anzieht.

Wir leben in unseren Dörfern und Städten – die ja ebenfalls große Dörfer sind – im Herzen Europas. Unsere Geschäfte bieten Esswaren aus aller Herren Länder an. Wir haben eine gemeinsame Sprache mit unserem nördlichen Nachbarland, mit dem wir uns dennoch nicht wirklich verbunden fühlen. In unserer eigenen Hauptstadt und entlang der Sprachgrenze leben wir neben einem französischsprachigem Nachbarn, der Französischen Gemeinschaft, über die wir immer weniger wissen, da wir ihre Zeitungen nicht lesen und uns ihr Fernsehprogramm nicht anschauen.

Wir arbeiten stur und hart, und obwohl wir uns in mehr Sprachen ausdrücken können als die meisten Europäer, bleibt unser Horizont oft beschränkt.

Prinzipien sind vorhanden, aber sie werden nicht mit letzter Konsequenz umgesetzt. Die Heuchelei, zu der dies leicht führen kann, erleichtert das Leben mal, mal steht es ihm im Wege. So streng man in der Lehre ist, so mild ist man bei ihrer Anwendung: warm und großzügig, gelegentlich aber auch verschlagen und korrupt.

Viele Flamen, die den Krieg mitgemacht hatten, kamen als Pazifisten wieder und stritten für die Selbstverwaltung und Duldsamkeit. Die pazifistische Tradition der Flamen beruht auf ihrer jahrhundertealten Erfahrung mit Krieg und durchziehenden Heeren und wohl auch ein wenig auf ihrem Realitätssinn, der der Leidenschaft abhold ist.

Autoritäten misstrauen wir immer noch, aber wir haben eben die Behörden, die wir verdienen. Wir widmen dem Gemeinwohl zu wenig Aufmerksamkeit und dem Privatleben zu viel. Wir leben und lassen leben.

Es gab einmal eine Zeit, da wäre ich lieber Pariser gewesen, und wenn ich in einer italienischen Stadt bin, frage ich mich immer wieder, wie es wohl wäre, dort zu leben. Aber es ist anders gekommen. Ich bin hier geboren und hier werde ich wahrscheinlich sterben. Ich habe nicht darum gebeten, Belgier zu sein und in der Schule Niederländisch zu lernen. Ich bin in der Lage, mich in mehreren Fremdsprachen auszudrücken, aber zum Niederländisch weiß ich mich verurteilt. Natürlich ist dies alles zufällig und könnte auch anders sein. Aber es ist nun mal so und ich habe es akzeptiert.