Im Hexenkessel

Die Choreographien des Folkwang Tanzstudios in Essen sind auch nach 70 Jahren noch Avantgarde. Ein Blick auf den deutschen Ausdruckstanz

 

DIE ZEIT, 4. Juli 2002
Evelyn Finger

Kürzlich präsentierte das FTS unter dem Titel „kolme” drei Uraufführungen über das Vergnügen, sich, gegenseitig zum Tanzen zu bringen: aus der Kulisse treten und sich in den Vordergrund spielen, seine Mitspieler provozieren und sich schließlich doch von ihnen mitreißen lassen. Zu diesem Zweck kann man auf einem viel zu kleinen Fahrrad über die Bühne radeln oder laszive Showhüftschwünge vollführen, man kann in seidenen, Krinolinen durch die Gegend rauschen und zu pathetischen Opernklängen ganz unfeierliche Stampftänze zelebrieren. Hauptsache, die spontane und die planvolle Aktion sind so geschickt kombiniert, dass man nie genau weiß, wo das Leben aufhört und wo die Kunst anfängt. Diese spielerische Form der Wirklichkeitsaneignung beherrschen die Folkwang-Choreografen perfekt: Bei Gabrio Gabrielli tanzen das Banale und das Verrückte, das Ernste und Komische wild durcheinander, sein Kollege Manuel Quero dagegen, ebenfalls zu den elf Tänzern der Compagnie gehörend, flirtet in seiner Barockparodie „The Maids of Honour” so unverfroren mit dem Publikum, dass man sich ständig fragt, wer hier eigentlich auf den Arm genommen werden soll: die höfische Koketterie oder die Geltungssucht allgemein oder man selbst ganz speziell. In ausgelassenen Bewegungskanons wird die Theatralik menschlichen Verhaltens vorgeturnt, wir kochen im choreografischen Hexenkessel, und trotzdem ist auch Platz für das Erhabene, das Einfach-Schöne.

Folkwang mit finnischem Zahlwort

TANZ / Zwischen Barockprunk und Hinterhof-Milieu: ein Abend im Choreographischen Zentrum.

NRZ, 22. Juni 2002

DSG

Herausragend geriet das Barockwerk: „The Maids of honour" des Folkwang-Tänzers und -Choreographen Manuel Quero. Damen der Gesellschaft sind sein Thema, Damen, die so wundervoll geziert und gestelzt daher kommen, die sich jenen blasierten Gesichtsausdruck angeeignet haben, der sie vom Pöbel abheben soll. Aber die Maske hält nicht, sie fällt wie auf Kommando von ihnen ab.

Furien, Hexen, Haltlose kommen zum Vorschein. Chaos, Extase, Hysterie ergreift die wie besessen scheinende honorige Gesellschaft, alle in dunkelrote, seidig-wallende Roben mit Reifröcken (Kostüme: Anne Bentgens) gewandet. Kämmt man noch eben der Gefährtin als freundliche Geste das Haar, so reißt man im nächsten Augenblick daran, stellt man sich gerade noch in der Gruppe ordentlich auf, herrscht im nächsten Moment ein mit Ellbogen ausgetragener Machtkampf um die beste Position. Gerangel, Imponiergehabe, Terror beherrscht die turbulente Szene, die wirkungsvoll mit großen, zerhackten Arien von Händel, Wagner und J.A. Hasse in der Bearbeitung von Thomas Wacker unterlegt ist. Die Handschrift der mittanzenden Henrietta Horn, Leiterin des Folkwang Tanzstudios, ist deutlich spürbar.

„Explaining impossible" heißt das Werk der Finnin Sanna Myllylahti, das so unerklärbar doch nicht scheint. Großstadtgeräusche, Klänge begleiten die zehn Tänzerinnen und Tänzer, von denen jeder, auf sich selbst bezogen, seine Übungen absolviert. Sie hocken im Halbdunkel auf Holzkisten, in denen Kerzen brennen. Einer hantiert selbstvergessen mit drei Kisten, klettert in ihr Inneres. Erst als die sanfte, minimalistische Musik von Arvo Pärt zu hören ist, findet sich ein Paar zum Pas de deux. Doch es ist kein Happyend: Die Situation des Reisenden im Zug wird beschrieben, dessen Gesicht sich im Fenster spiegelt und ihn gefangen nimmt. Es ist ein sensibles Werk, das um Ich-Findung, um Gesellschaft und Einsamkeit kreist.

Unkomplizierter war das Werk von Gabrio Leonida Gabrielli: Mit viel Humor und Pfiff zeigte er typisches Hinterhofmilieu mit Wäsche auf der Leine und Leuten, die sich zum Plausch treffen. Köstliche Charaktertypen und freche Tänze waren dabei zu genießen. Der Applaus im Choreographischen Zentrum war enorm.

Irritierte Gewohnheiten

Drei Choreographien des Folkwang Tanzstudios

Tanzdrama, 5/2002

Irmela Kästner

»Kolme« ist finnisch und bedeutet »drei«. Als Reverenz gegenüber dem Gast aus Finnland, der Choreographin Sanna Myllylahti, ist der Titel des neuen Programms des Folkwang Tanzstudios zu verstehen, der einzig die Anzahl der in einem Tanzabend zusammengefaßten Choreographien benennt, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Die künstlerische Leiterin Henrietta Horn hatte neben Myllylahti ihren Kompaniemitgliedern Gabrio Gabrielli und Manuel Quero das choreographische Feld überlassen. Sie selbst tritt hier nur als Tänzerin in Erscheinung, mit Verve und ansteckender Spielfreude in Queros musikalisch-dramatischem Ausflug in das Barock, „The Maids of Honour”. Gabriellis amüsante, anrührende Sozialstudie „tripum - sonst” ist da aus einem ganz anderen Stoff gewebt. Und Myllylahtis „Explaining Impossible” bezieht deutlich bildnerische Aspekte in die Arbeit ein.

Wie Vogelkäfige muten die aus Holz gezimmerten Kästen an, die sich entlang dem hinteren Bühnenrand aufreihen, durch deren Gitter der schwache Schein von Teelichtern flackert. Auf den Kisten kauern Menschen, verändern regelmäßig ihre Position. Jäh wird die melancholisch anmutende Stimmung zerrissen. Sirenen heulen auf, die Tänzer eilen über die Bühne, hin und her und stets aneinander vorbei, wie auf einer belebten Straßenkreuzung. Jemand erzählt eine Geschichte von der Beobachtung eines Manns, der so normal ausgesehen habe, daß der Erzähler ihn schon wieder ungewöhnlich fand. Ansichtssache, möchte man sagen, wenn die Tänzer sich schließlich samt den Kästen an den vorderen Bühnenrand bewegt haben und nun aus dem Blickwinkel des Publikums die Spielfläche betrachten. Immer wieder treten einzelne in die Mitte, dehnen und Strecken ihre Glieder in weit ausholenden Bewegungen, deren kreisende Gesten sie häufig zur eigenen Körpermitte hinführen. Es dauert lange, bis sich zum erstenmal zwei Tänzer in einem Duett begegnen. Das Besondere im Alltäglichen herauszufiltern gelingt der Choreographin hier vor allem in der variablen räumlichen Gestaltung, in einem fein abgestimmten Spiel aus Licht und Schatten und weniger in den gleichförmigen, sich schnell erschöpfenden Tanzsequenzen.

Gabriellis charmante Hinterhofepisode „tripum - sonst” erzählt da ganz direkt eine Geschichte von der Macht der Gewohnheit und von den Irritationen, wenn das Vertraute plötzlich anders zu sein scheint. Die Wäsche hängt auf der Leine, der Müll umlagert die Tonne. Nacheinander stellt sich die skurrile Personage dieses Nachbarschaftsidylls vor: eine freche Göre auf Rollerblades, ein Sportfreak im Trainingsanzug, der ab und an gern im Rüschenkleid posiert, eine ewig zeternde Alte, ein Penner, der beim Aufwachen lauthals ins Publikum rülpst - Typen, deren lässige, hier allerdings noch ein wenig hölzerne Auftritte man ähnlich bei Alain Platel oder auch bei dem Folkwang-Absolventen Samir Akika gesehen hat. Doch im Gegensatz dazu verkneift sich Gabrielli nicht die Moral seiner Geschichte. Denn auf einmal wechselt das alltägliche Durcheinander in einen Traum von einer schwarzen Madonna, der alle in hypnotischer Prozession folgen. Als der Spuk vorbei ist, liegt der Penner seltsam leblos da. Ganz bekümmert rührt sich plötzlich selbst die zeternde Alte. Der Schrecken ist von kurzer Dauer, dann regt sich der Mann wieder und rülpst erst mal ordentlich. Für einen Moment hält Gabrielli der Gesellschaft den Spiegel einer eher zweifelhaften Nächstenliebe vor und findet dafür eine humorvoll-charmante Erzählweise.

In üppigen Roben und Gesten voller Pathos schwelgt Queros „The Maids of Honour”. Die Kompanie scheint sich tänzerisch darin rundum wohl zu fühlen. Es raschelt der Taft, keck wirft man sich in Pose, rangelt zu Musik von Georg Friedrich Händel um den vorteilhaftesten Platz im Gruppenbild. In der Dunkelheit raffen Männer wie Frauen die bauschigen Röcke, rasen in wilder Besessenheit durcheinander, Blitz und Donner krachen aus den Lautsprechern. Quero findet eine zeitgenössische Tanzsprache, die sich an die exaltierte Überschwenglichkeit und gleichzeitige Todessehnsucht barocken Lebensgefühl herantastet. Seine Choreographie weist Musikalität und Geschlossenheit auf und findet immer wieder zu einer einnehmend kraftvollen und dazu ironisch-hintersinnigen Bildsprache.