Purer Tanz, besessene Raserei

ZOLLVEREIN. Das Folkwang Tanzstudio führte Rodolpho Leonis atemberaubendes Werk „If and only if“ auf.

NRZ – Essen 12/06
Dagmar Schenk-Güllich

Ein Purist unter den Choreografen, einer, den man auch vor vier Jahren schon einmal im choreografischen Zentrum erlebt und dessen Werk sich eingeprägt hat: „Inherent Simplicities“ zeigte er damals auf Musik des amerikanischen Minimalisten Steve reich. Ein Tanzmarathon war das damals, eine besessene Raserei eines jeden für sich. Er hat sich davon nicht entfernt, der Brasilianer Rodolpho Leoni, der als neuer Tanzprofessor an der Folkwang Tanzschmiede jetzt sozusagen seinen Einstand gab. Für das Folkwang Tanzstudio hatte er „If and only if“ geschaffen. Dieses Ensemble, das zur Mehrheit aus Folkwang Absolventen besteht, führte das Opus auch auf – eine atemberaubende Uraufführung.

Atemberaubend auch deshalb, weil die Tänzerinnen und Tänzer eine runde Stunde im Höchsttempo agieren, rennen, jedes Glied ihres Körpers bewegen, zucken, springen. Keine Bewegung könnte eindeutig umschrieben werden, jede Bewegung besteht aus einer Kaskade von Abfolgen, keine Handlung, keine psychischen Momente, keine Emotionen könnten in Worte gefasst werden, und doch ist es faszinierender Tanz. Purer Tanz, der keine Requisiten verträgt, sieht man von den 14 großen- halbtransparenten Tafeln ab, die im Halbrund die Bühne umkreisen und den Tänzern Rückzugsmöglichkeiten für allzu kurze Verschnaufpausen gönnen. Es ist ein Tanz, der immer wieder anhebt, der blitzschnell und krauftraubend zupackt, der höchste Geschmeidigkeit und Ausdauer verlangt, der jeden Bruchteil einer Sekunde festgeschrieben ist. Wie ein immerwährender Fluss spielt er sich vor den Augen ab, eine vielschichtige rhythmische Abfolge, „ein symbolisches Bild vom Leben“, beschreibt ihn der Künstlerische Leiter des Pact Zollverein, Stefan Hilterhaus. Das Bewegungsvokabular mit seinen sehr detaillierten Bewegungssequenzen, das die Tänzer und Tänzerinnen des FTS zusammen mit Robert Skatulla, Hyun-Jin Kim, Jana Griess und Rodolpho Leoni geschaffen haben, ist höchst eigenwillig und einzigartig in der deutschen Tanzlandschaft. Musik bräuchte Leoni für seinen Tanz nicht. Erst in letzter Minute habe er Samba-Musik unterlegt, erzählt Stefan Hilterhaus.

Rodolpho Leoni, der am Martha Graham Center for Contemporary Dance in New York seine Ausbildung erhalten hat und seit 1988 als freie Choreograf und Dozent für modernen Tanz in Deutschland wirkt, ist für das stets für neue Strömungen sehr offene Folkwang Tanzstudio unter der Leitung von Pina Bausch und Henrietta Horn eine Bereicherung. Mit „If and only if“ kann der Choreograf, der in diesem Jahr den Deutschen Produzentenpreis 2005/06 erhalten hat, einen weiteren großen Erfolg verbuchen.

Tanzen ist Lust

WAZ – Essen 12/06
Bettina Trouwborst

…Kommunikation ohne Worte ist Rodolpho Leonis Leidenschaft. Nie sah man den Brasilianer so eloquent wie in seiner neuen Produktion If and only if“ mit zehn Tänzern des Folkwang Tanzstudios. Für die Uraufführung in PACT Zollverein war kein Stuhl mehr zu haben…

…Lässigkeit ist angesagt. Weite Hosen, weite Hemden in Grau-Blautönen. Ein Paar nimmt im lockeren Schlendertempo den Raum in Besitz. Tanzen ist Lust. Leonis schlaksige Eleganz versprüht die helle Lebensfreude. Und doch knistert die Luft: Pfeilschnell lässt die Asiatin ihren Arm wie ein Messer zur Ohrfeige vorschnellen. C´est la vie – der Partner tanzt unbeeindruckt weiter. Mit federndem Sprung gesellt sich eine weitere Tänzerin hinzu und die drei schwirren wie Elementarteilchen über die Bühne…

K-West 01/07
Melanie Suchy

…Erst „wenn“: gespannter Nerv, gleich folgt der Impuls. „Dann“. Kurze Erlösung, die Spannung weitergeben. Rodolpho Leonis Tänzer sind den Fasern ähnlich. Eine ganz eigene Leichtigkeit zuckt um ihre Knochen, etwas zwischen Himmel und Erde, körperlicher Schwerkraft und emotionalem auftrieb, ohne sich je festzulegen. Zwischen wenn und dann. Diesen unermüdlichen Bewegungsschaltkreis hat er – nach „kess keton“, „baud“ und „speak“ – nicht mit seinem eigenen kleinen Ensemble, sondern mit den zehn Profis des Folkwang Tanzstudios gemeinsam choreografisch entwickelt. Zudem ist der brasilianische Wuppertaler, Gewinner des Deutschen Produzentenpreises 2005, ab sofort an der Folkwang Hochschule engagiert als neuer Professor für Modernen Tanz. „if and only if“ – Premiere auf PACT Zollverein in Essen - feiert, bei brasilianischer Musik, auf feine Art die Tanzlust, vermeidet Klischees, Posen sowie den Ausdruck von Gefühlen. Was zählt, ist der eine Moment und der nächste, die Entscheidung für diese (und nicht jenes) in Sekundenbruchteilen. Denken, ohne zu überlegen…

Die Magie der Möglichkeiten

Das Folkwang - Tanzstudio Essen gastiert mit einer umjubelten Choreographie in den ausverkauften Kammerspielen.

WAZ - Bochum 02/07
Sven Westemströer

…Am Scheideweg
Bei den begnadeten Essener Folkwang - Tänzern verhält sich das ähnlich: In „If and only if“ verstecken sich reihenweise solcher Momente, die es genau zu beobachten und zu entschlüsseln gilt Zwischen riesigen grauen Gestrüpp-Wänden entsteht ein unendliches Kreisen der Tänzer umeinander. Scheinbar sind sie ohne erkennbares Ziel unterwegs und doch wirft das Schicksal sie zusammen…

…Dabei: „Zufällig“ geschieht an diesem Abend überhaupt nichts. Mögen die einzelnen Szenen auf der Bühne auch noch so beiläufig hingetupft erscheinen, so steckt hinter all dem ein genauer Plan. Jede Momentaufnahme, jede kleinste Bewegung ist bis aufs i-Tüpfelchen einstudiert. Dazu lässt Choreograph Rodolpho Leoni mitreißende lateinamerikanische Rhythmen ebenso gern erklingen wie sacht dahin plätschernde Regentropfen.

Das Bochumer Publikum scheint Essener Tänzer, die ihre Stücke fortan regelmäßig an der Königsallee zeigen wollen, schon längst fest ins Herz geschlossen zu haben. Der Jubel am Ende kannte jedenfalls keine Grenzen…