Choreografie beginnt mit fünf Minuten Reglosigkeit

Folkwang zeigt „Blauzeit” von Henrietta Horn

WAZ 05.2006
Sonja Mersch

Wie lange können fünf Minuten sein? Zehn Tänzer stehen regungslos auf der ansonsten leeren Bühne, den Blick konzentriert nach vorn gerichtet. Vollkommene Stille, kühles Licht. Und fünf Minuten lang passiert – nichts. So ungewöhnlich beginnt „Blauzeit” das neue Stück von Henrietta Horn für das Folkwang Tanzstudio. Uraufgeführt in Leverkusen, ist es zurzeit in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule zu sehen.

Sie kommen und gehen, fallen zu Boden und stehen wieder auf. Die Bewegungen der durchweg brillanten Tänzer wirken bald geschmeidig, bald abgehackt. Sie zucken, wälzen sich herum, verharren sekundenlang in einer Position. Dazu Geräusche zuerst wie ein metallisches Krabbeln, später wie Klingeln, schließlich Mundharmonikaspiel, alles kreiert von dem New Yorker Komponisten David Lang.

Vieles geschieht gleichzeitig und mutet aggressiv an, ungeordnet wirkt es nie: Hier wirkt jeder Schritt, jede Bewegung präzise duchchoreografiert.

Besonders stark: die Duo-Sequenzen. Zwei Tänzer ringen atemlos miteinander, ein anderes Paar durch intensiven Blick- und Körperkontakt. Bewegungsfolgen von fast zärtlicher Nähe. Das Licht: warmgelb, weiß, dann wieder bläulich-kalt. Und immer wieder diese Krabbelkäfer aus Plastik, die eine Glaswand herunterkrabbeln. „Klack, klack, klack” macht das und wirkt irgendwie lustig.

Den Käfern abgeschaut

TANZ/ „Blauzeit”, das neue Stück der Choreographin Henrietta Horn, war zum ersten Mal in Essen zu sehen. Inspiriert wurde das Werk unter anderem von der Musik des Komponisten David Lang

NRZ-Essen 19.05.2006
Dagmar Schenk-Güllich

Henrietta Horn überrascht. Man kann beinahe sicher sein, dass mit jedem ihrer Tanz-Stücke neue Bewegungsmuster, neue stilistische Tendenzen, außergewöhnliche Inhalte gezeigt werden. Jetzt sorgte die zusammen mit Pina Bausch das Folkwang Tanzstudio leitende Choreografin mit dem neuen Werk „Blauzeit” wieder für Aufregung.

Die Musik, die Zeit und – das war die Überraschung – Käfer haben dieses Stück zu dem gemacht, was es ist. Ausgangsmaterial war für Henrietta Horn die Musik des 1957 in Los Angeles geboren amerikanischen Komponisten David Lang. …

… Das Werk hat dennoch die typisch kantige, minimalistische, zugleich expressive Handschrift seiner Erfinderin erhalten. Das Werk beginnt mit Stillstand, einem fünf Minuten dauernden, gegenseitigen Sich-Anstarren zwischen Tänzern und Publikum in vollkommener Lautlosigkeit. Mit dem ersten sanften Ton löst sich die Starre. Was folgt, sind in der Mehrzahl exakt ausgeführte, virtuose Bodenbewegungen von zehn Tänzerinnen und Tänzern.

Die Bühne ist weiß und leer, eine schmale, hohe Glaswand gibt Rätsel auf, Später weiß man um ihre Existenz. Da knallen die ersten Käfer drauf, da krabbeln sie zuhauf die Wand herunter. Die Menschen ahmen ihre Bewegung nach. Duette von aggressiver Heftigkeit sind immer wieder eingestreut. Ein Tänzer improvisiert fein und synchron zur Bewegung eine Mundharmonika. Leises Geklirre, Geklapper und Knistern, wie von Insektenflügeln erzeugt, bleibt übrig, eine sanfte Stimme gibt das Kommando. „Und, und, und, und….” Das Stück fasziniert.

Warten auf den Tanz

Das Folkwang Tanzstudio Essen hob „.Blauzeit.” aus der Taufe

Kölner Stadt-Anzeiger – Nr. 105 – Samstag/Sonntag 6./7. Mai 2006-06-23
Ingeborg Schwenke-Runkel

… Alles kreist in diesem 70-Minuten.Stück um die Ruhe in der Bewegung. Es ist ein in sich gekehrtes, sprödes Stück, sehr deutsch und dennoch aufregend, weil es aufregt. Es gründelt. Es sinniert. Es analysiert. Es fragt: Wie viel Stillstand verträgt ein Kunstform, die von der Bewegung lebt? …

… „.Blauzeit.” strengt an, erfordert Konzentration und setzt auf die Bereitschaft, sich auf die Stille, die immer wieder Bewegungsschüben unterbrochen wird, einzulassen. …

Menschen und Käfer

„Blauzeit” in Leverkusen

ballettanz 06/06
Jochen Schmidt

„Im Mittelpunkt von ´Blauzeit`”, liest man auf der Einladung „steht die Frage: ´Wie lang sind fünf Minuten?`” Fünf Minuten lang stehen die Tänzer des Folkwang Tanzstudios locker über die Bühne verteilt, regungslos da und schauen ins Publikum, ehe sie sich mit einem Schlag zu Boden fallen lassen und dort so lang im Embryo-Haltung liegen bleiben, dass man fast schon glaubt, „Blauzeit” werde aus lauter solchen regungslosen Fünf-Minuten-Sequenzen bestehen.

… Die Tänze in der Stunde zwischen den regungslosen ersten und letzten fünf Minuten von „Blauzeit” entwickelt Henrietta Horn weniger aus irgendwelchen kanonisierten Tanztechniken als aus den Grundbewegungen des täglichen, nicht nur menschlichen Lebens. Der Bühnenboden wird zur wichtigsten Raumkomponente. Die Folkwang Tänzer gehen und stehen, liegen und sitzen, laufen und hüpfen. Mit ihren Körpern bauen sie Brücken und Tunnel. Sie bewegen sich auf allen vieren, und gelegentlich wirken sie wie große Schalentiere oder Käfer…

Sie nehmen drohende Haltungen ein oder führen Schatten-Boxkämpfe auf. Gelegentlich scheinen Sie von zärtlichen Anwandlungen überwältigt, dann hält jemand einem auf dem Rücken Liegenden den Kopf, auf dass er den Boden nicht berühre.

Zu den amüsantesten Momenten zählt der spielerische Umgang, mit kleinen Plastikfiguren, Männchen und Käfer, die an der großen Glasscheibe, dem wichtigsten Requisit auf der weiten, offenen, kaum mit mehr als spannhohen Gittern gesäumten Bühne, herunterturnen. Erst schleudert sie einer der Tänzer , wie eifersüchtig darauf bedacht, dass sich kein anderer in sein Spiel einmischt, aufs Glas, dann ein anderer, und schließlich kommt es, vom Himmel hoch, zu einer wahren Völkerwanderung der kleinen Spielzeuge die in ihrer Ausprägung als Mini-Menschen und Insekten die Vorlage für das Bewegungsmaterial abgeben, aus dem Henrietta Horn ihr Stück gebaut hat …