Pressestimmen

Ästhetische Perfektion

„Bits and Pieces“: Rodolpho Leoni zeigt die Uraufführung seines neuen Tanzstücks in der Neuen Aula

WAZ Kultur, Essen, 21.12.2009
Sarah Heppekausen

Tanztechnisch war eine Menge los an diesem Wochenende: Während seine Studierenden ihre Arbeiten am Samstag zum dritten Mal bei PACT Zollverein präsentierten, zeigte der Folkwang-Professor Rodolpho Leoni selbst die Uraufführung seines neuen Tanzstücks in der Neuen Aula. „Bits and Pieces“ hat er den Siebzigminüter genannt. Und tatsächlich erobern sich die zwölf Tänzer den Raum wie Datenmengen einen Speicherstick. In Soli, Duetten und Gruppenformationen bewegen sie sich so rhythmisch präzise und fast technoid wie der überwiegend elektronische Soundtrack – von David Behrmann bis zu Terry Rileys Minimal Music.

Leoni, künstlerischer Leiter des Folkwang Tanzstudios, stellt in seinen Choreografien immer wieder physische Abstraktionen aus. Auch diesmal sind seine Tänzer keine emotional Zerrissenen, die im Tanz ihr Innerstes bloßlegen. Wie Ausstellungsstücke erscheinen ihre Soli, wie atmosphärische Kommunikationssysteme die Gruppenformationen. Sergey Zhukov präsentiert das erste Solo als kraftvolle Disco-Vortanz-Nummer mit Breakdance-Einlagen. Sein Blick ist immer wieder ins Publikum gerichtet, als wolle er sich vergewissern, dass seine Tanzkunst auch als solche wahrgenommen wird. Leonis Tänzer führen die Sprache des modernen – und manchmal auch klassischen – Tanzvokabulars als formalen Akt vor, in ästhetischer Perfektion, in grau-blauen Hosen und Shirts, auf effektvoll ausgeleuchteter, sonst kahler Bühne. Mal meint man, einen Kampf zu erkennen, mal Spielfiguren, die wie auf einem gescratchten Plattenteller tanzen.

Nur zum Ende weicht Leoni seinen sonst so konsequent durchgeführten, rasanten Abend leider auf. Die Musik wechselt abrupt zum brasilianischen Singer-Songwriter Marcelo Camelo, die Tänzerinnen von der formalen, zu emotionalen, nach Innen gekehrten Bewegung.

„Schrill und jazzig“

„Bits and Pieces“ feiert Premiere im Folkwang Tanzstudio. Choreographie lässt keine Atempause.

WAZ/NRZ, 04.01.2010
Beatrix Stan

… In „Bits and Pieces“ zog Leoni die Geschwindigkeit der überaus dynamisch daherkommenden Darbietung noch einmal an. Schrille, jazzige Sphärenklänge untermalen den ersten Solisten, dessen Körper sich immer wieder in Richtungswechsel verliert, schlangengleich windet, mitten im Bewegungsablauf stoppt, sich verändert, gegen die eigenen Hände zu kämpfen scheint. Das Erschreckende, auch der weiteren Soli, die jedem einzelnen der bereits aus dem ersten Teil des Abends bekannten Tänzer zugestanden werden, liegt in der Permanenz des Richtungswechsels. Kein Akt hat Länge, keiner kann zu Ende geführt werden. Auf Leonis Bühne gibt es keinen Raum der Entlastung. Und am Ende kein von vielen Besuchern erwartetes Gruppen-Finale.

Kern der Choreographie war vielmehr ein in die Mitte des Stücks eingebettetes Kampf-Pièce, das die männliche Folkwang-Besetzung mit brillanter Vehemenz absolvierte. Zu ohrenbetäubendem Hammerwerk und dem Geräusch einer Flugzeuglandung wurde das Quintett in blauweißes Scheinwerferlicht getaucht.  In einem Tanzkampf dominieren Gesten des Sich-Zeigens, Sich-Positionierens und Fäusteballens. In alle Richtungen wurde getreten, geboxt, wurden Unterwerfungsgesten eingefordert und zuweilen geliefert, soweit nicht die Flucht geratener scheint.  Ihr folgte ein weiterer Angriff, ein weiterer Affront als Symbol der schönen neuen Platzhirschwelt, wie sie im globalen Wirtschaftsraum Usus geworden ist.

Auch ein darauf folgender Paartanz spiegelte diese Desolation in nuce. Jagd und Zurichtung, und sobald man einander näher kam, folgt die hemmende Fesselung, notfalls indem man den anderen durch die Schwere des eigenen Körpergewichts auf den Boden nagelt. So geriet auch die Brautwerbung zu einem tief schwarzen Paarkampftanz. Die „Bits“ erweisen sich als Bissen, die nahtlos an das „Shifting Concentration“ anknüpften, Wege verstellten und Körper abschoben, wegdrückten, mit ihnen umsprangen. Aus einem Dreierkampf ging am Ende ein einzelner Sieger hervor, der sich, allein auf der Bühne zurückgeblieben, schließlich noch selbst zu bekämpfen schien.

Das Schlussstück dann leicht versöhnlich, eine Solofantasie zu zarten Pianoakkorden und einem von menschlicher Stimme gesungenen Lied, die zum ersten Mal an diesem Abend den Eros des Tanzes heraufbeschwor. Vier „Vorhänge“ für die mutige Truppe, die absolut minimalistisch, ohne jede Requisite, ohne Bühnenbild oder besonderes Kostüm, in vielen Passagen sogar ohne Musik allein den Körper ausdrücken ließ, was die Seele des modernen Menschen beschwert. So als könnte er, sobald er auf eigenen Füßen steht, alleine überleben.