Kostbarkeiten

Tanzjournal 4/05
Gesa Pölert

„Das ist ein Abdruck von meiner Stimme”, erklärt Mu-Yi Kuo die bunten Streifen, die hinter ihr über die Leinwand flimmern. „Er ist einzigartig. So einzigartig wie mein Daumenabdruck.” Wie zum Beweis singt die Chinesin einen Vokal und lässt ihn über das Computerbild ihrer Stimme laufen: eine rote Spur auf blaugrünen Grund. Die belgischen Geschwister Thierry und Michèle Anne De Mey sind bekannt für solche Experimente. Seit 20 Jahren arbeiten sie an einer Kunst, die sich auf das individuelle Rohmaterial von Körper und Materie konzentriert. Er als Musiker und Filmmacher, sie als Tänzerin und Choreographin.

Für 13 Reasons (… to sing) – entstanden für das Folkwang Tanzstudio – haben sie (Michèle Anne und Thierry De Mey) wieder gemeinsam gearbeitet, wie früher bei Anne Teresa de Keersmaeker. Thierry De Mey steuert diesmal keine neue Musik bei, sondern choreographiert und komponiert ältere Stücke ineinander. Es sind detailgenaue Klangbilder, die die Stimmung verschiedener Orte und Momente verdichten. Von leisen Klopftönen und rhythmischen Saxophonchaos bis zu den schroffen Gletscherlinien eines Streicherensembles.

Der Tanz (in einfachen, leichten Alltagskleidern) treibt durch diese Bilder, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen. Er beginnt in ganz einfacher Ensemblelinie, löst sich nach und nach auf in Soli und kleine Gruppen. Flüchtige Gesten und formen der neun Tänzer münden immer wieder in wenige Grundlinien: gestrecktes Hingleiten über den Boden, kurze Spannungen zwischen zwei Partnern. Vor allem Drehungen. Drehungen in der Senkrechten, Drehungen über den Boden. Einmal hängt sich der großartige Justo Moret Ruiz mit den Armen an ein Seil und kreist daran wie eine aufgezogene Puppe, in irrwitzig schneller Spindelbewegung. Die Stimmung kippt vom Leichten ins Surreale: Violinen beschreiben eine tiefen See, das Licht malt Schatten auf die Leinwand, hinten im Raum wird auch Lotte Rudhart zum Püppchen am Seil.

Was diese Kunst sichtbar macht, ist die Kostbarkeit von Authentizität. Die beiden Geschwister arbeiten mit einfachstem, möglichst natürlichem Material. Um die Atmosphäre auf der nackten Bühne ständig neu zu verorten, genügt ihnen weißer Kreidestaub auf dem Boden. Dazu eine Beleuchtung, die Tages- und Jahreszeiten ausmalt: etwa wenn die Tänzer durch aufgewirbelte Kreide schleichen wie Gespenster auf einem Dachboden. Thierry De Meys Klänge sind nicht computergeneriert, sondern aufwendig aus der Wirklichkeit gefiltert. Und die Tänzer – auch wenn sie abstrakte Formen tanzen – machen gerade innerhalb fremder Strukturen das Persönliche sichtbar. Es entsteht dabei ein 90minütges Tanzgedicht. Leicht und gespannt, in vielstimmiger atmosphärischer Klarheit.

Faszinosum: Michèle Anne De Mey und Thierry De Mey choreographieren für das Folkwang Tanzstudio „13 Gründe zu singen” mit hinreißender Musik

WZ, Kultur, 05.07.2005
Bettina Trouwborst

Essen. Wer wie das Folkwang Tanzstudio (FTS) das Geschwisterpaar De Mey mit einer Gastchoreografie beauftragt, lädt sich auch den Geist Anne Teresa de Keersmaekers ins Haus. Anne Michèle und Thierry De Mey sind eng mit dem Werk der Flämin verbunden. Die beiden Frauen setzten 1982 mit „Fase” zu Steve Reich einen Postmodernen Meilenstein. Sie bildeten die Keimzelle des berühmten Ensembles „Rosas”, gegründet 1983.

Thierry war mit seiner Gruppe Ictus Musiker der ersten Stunde und ist nunmehr ein international gerühmter Komponist und Filmemacher. Just wurde das Geschwisterpaar zu künstlerischen Leitern von Charlerois/Danses berufen. Naheliegend also, dass „13 Reasons … (to sing)” bei der Uraufführung in der Neuen Folkwang-Aula nach der alten Minimalisten-Methode verfährt und das hinreißende Essener Ensemble zunächst Addieren und Subtrahieren von Energie lehrt.

Das erste Drittel ist das Stärkste des Abends, wenn die in intensiven Farben gekleideten fünf Tänzerinnen und vier Tänzer auf und ab schreiten oder Geometrien bilden, die sich systematisch und minimal verändern. Kleine Hüftschlenker überführen die strengen Formationen unmerklich in eine gewisse Lässigkeit. Die Tänzer erobern sich Bewegungsfreiheit, rennen los, stürzen zu Boden, kugeln durch weißen Staub. Sekunden-Soli, zugeschnitten auf einzelne Persönlichkeiten unterbrechen die Gruppendynamik.
Resurrección Rivera, ein Tänzer wie ein Vulkan, schraubt wütend Drehungen in den Boden, bevor er die Luft mit Armen und Beinen wie einer Gegner zerschneidet. Lotte Rudhart, die sich übrigens „Rodolfo Leoni Dance” anschließen wird, zelebriert ihre endlosen Gliedmaßen. Es ist Thierry De Meys sensible Klangkomposition, die diese Versuchsanordnung für Tänzer zum Faszinosum machen kann.
Die ersten Gänge begleitet noch der Rhythmus der Füße. Die luftigen Hüftschlenker unterstreichen Trommelschläge, so sanft, als würden Schmetterlingsflügel die Felle streifen. Und, intensiviert, tropft Percussion in den Raum mit den stürzenden, fallenden und taumelnden Tänzern. Die Streicher treten in eine kreischende Auseinandersetzung und verwandeln ein Trio in ein hitziges Dramolett.
So befinden sich die Künste ständig im Dialog – einem Dialog, wie er fruchtbarer nicht sein kann. (…)

Aufregend, ausdauernd, akrobatisch

NRZ, 04.07.2005

(…) Neun Tänzerinnen und Tänzer, denen im Verlauf des Abends das Höchste an artistischer, akrobatischer Leistung, was Tempo, Ausdauer und Bewegungsvokabular angeht, zugemutet wird, agieren rund 90 Minuten lang ohne Pause. Von sachte ausschreitenden Formationen zu leisen perkussiven Klängen, einem stetigen Aufbrechen dieses Tuttiblocks durch eruptive solistische Einschübe zu grollenden, lauter werdenden Computerschlägen entwickelte sich das Stück rasant. Diverse tänzerische Soli mit blitzschnellen Bewegungen auf dem kreidebedeckten Boden faszinierten. (…)

(…) Das war alles fein aufeinander abgestimmt, dieser stete Aufbau des Stücks mit diesen verrückten, kantigen, konturenscharfen Bewegungen der Arme und Beine, diesen gewaltsamen Sprüngen, dieser Bühnenausstattung mit dem Kreideboden und dem Video, dieser Übereinstimmung mit der Musik.

WAZ Essen, 04.07.05

(…) Das neunzig minütige Werk fordert von den Tänzern ein Höchstmaß an Durchhaltevermögen und akrobatischer Gewandtheit. Und wenn DIE ZEIT einmal über das Folkwang Tanzstudio schrieb „Auch nach 70 Jahren noch Avantgarde”, kann man das nach dieser Aufführung nur bestätigen.

Westfälische Rundschau, 13.07.05

…Die körperliche Leistung in einem fast anderthalbstündigen Programm ohne Pause verdient höchste Anerkennung. Man könnte von Tanzakrobatik sprechen, wäre das nicht eine Unterschätzung. Immer wieder auch meditatives Schreiten, dann Wechsel in unermüdlich jagende Bewegung; dies alles wie Uhrwerk, präzise, rhythmisch, gestochen klar. Die Ruhe in den musikalischen Phasen fasziniert wie das Erwachen, das zu Ekstasen führte.
Der Fantasie der Besucher ist keine Grenze gesetzt – er muss selbst deuten, was sich in Geste und Form abspielt. (…)