Drei Schwarz-Weiß-Fotos von einem jungen Mann. Auf dem ersten, sehr unscharfen Bild führt er seine Hand zur Stirn und beugt sich leicht nach vorne. Auf dem zweiten Bild führt er seine Arme über Kreuz und hebt sie vor seine Stirn. Auf dem dritten Bild ist seine Hand zu sehen, jeder Finger ist lang ausgestreckt und zeigt nach oben. Legt man die drei Bilder nebeneinander, sieht es aus als würde der Mann tanzen.
Mateusz Bogdanowicz studiert im 4. Semester Choreografie im Master an der Folkwang Universität der Künste. Der Ausbruch der Corona-Pandemie war für den 26-Jährigen ein großer Einschnitt. Während des ersten Lockdowns im März 2020 stand er wie viele andere junge Künstler*innen plötzlich ohne Einnahmen da. Einen Nebenjob fand er schließlich in jenem Betreuungszentrum, in dem auch Karin Gallus lebt.
Zweimal die Woche war Mateusz vor Ort und kümmerte sich um die Besucherregistrierung. „Dabei habe ich mich oft mit den alten Leuten unterhalten“, sagt er. „Sie haben sich für mein Studium interessiert und mir von ihren eigenen Tanzversuchen erzählt.“ So schön diese Gespräche auch waren – viele Senior*innen fühlten sich in der Isolation der Pandemie traurig und einsam, sagt Mateusz. „Ich habe mich deshalb gefragt, was ich als Tänzer für sie tun kann. Die Antwort war ganz einfach: Wenn die Menschen nicht hinausgehen können, bringe ich den Tanz eben zu ihnen.“
Iris Bücking, die Therapieleiterin des Betreuungszentrums, half ihm dabei, seine Idee in die Tat umzusetzen. Wenige Wochen später stand Mateusz – mit Maske, Abstand und Corona-getestet – zum ersten Mal im Zimmer von Karin Gallus: „Wir haben in Ruhe einen Tee getrunken und uns über Folkwang unterhalten. Dann habe ich für sie getanzt und sie hat mich fotografiert.“ Ein schöner, intimer Moment sei das für beide gewesen. „Wir waren uns erst völlig fremd und haben uns über den Tanz verbunden gefühlt“, sagt er.
Mateusz Bogdanowicz hat schon als Kind gerne getanzt. Was spielerisch begann, wurde für ihn bald zu einem wichtigen Lebensinhalt. 2013 entschied er sich für den professionellen Weg und begann ein Tanz-Studium an der National Academy of Arts in Kraków.
Dort kam auch der erste Kontakt zu Folkwang zustande: Roman Arndt, der bis zu seinem Tod Tanzgeschichte und Tanztheorie an Folkwang gelehrt hat, half Mateusz dabei, über das Erasmusprogramm einen Studienplatz für Choreografie an der Folkwang Universität der Künste zu bekommen. 2016 zog der Student nach Essen, seit 2019 absolviert er den Masterstudiengang Choreografie. „Mich hat es sehr gereizt, an einer internationalen Hochschule wie Folkwang zu studieren“, sagt er. „Hier kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen und bringen ihre ganz eigenen Sichtweisen auf die Kunst und das Leben mit. Das ist sehr bereichernd.“
Mateusz hat schon oft darüber nachgedacht, welche Rolle er als Tänzer eigentlich für die Gesellschaft spielt. Vor allem dann, wenn die sich im Krisenmodus befindet und auf einmal über systemrelevante Berufe diskutiert. Das ungewöhnliche Treffen mit Karin Gallus hat etwas bei ihm in Gang gesetzt: „Ich bin jetzt noch stärker davon überzeugt, dass der Tanz sehr viel zu geben hat“, sagt er. Zum Beispiel durch die körperliche Bewegung, die sich positiv auf das individuelle Wohlbefinden auswirke. „Außerdem ist der Tanz inspirierend und kann andere Menschen tief berühren“, sagt er. „Deshalb sollte er für alle da sein.“
Mit diesen Überlegungen bewegt sich Mateusz Bogdanowicz in der Tradition vieler Tänzer*innen und Choreograf*innen, die den Folkwang Tanz entscheidend geprägt haben. ‚Den Menschen im Tanz zu suchen‘ gehört bis heute zu den Leitgedanken der Folkwang Tanzausbildung. Auch Mateusz hat dieses Prinzip verinnerlicht und zitiert Pina Bausch, die viele Jahre das Folkwang Tanzstudio geleitet hat: „Es geht nicht um Kunst, auch nicht um bloßes Können. Es geht um das Leben und darum, für das Leben eine Sprache zu finden.“
Diese Philosophie möchte Mateusz auch in seinen anderen künstlerischen Arbeiten Wirklichkeit werden lassen. Gemeinsam mit den beiden Musik Studierenden Xueqing Wang (Flöte) und Bartosz Kolsut (Akkordeon) arbeitet er seit dem zweiten Lockdown an einem interdisziplinären Format für blinde Menschen. „Wir haben zusammen überlegt, wie man Tanzbewegungen durch andere Kunstformen zum Ausdruck bringen kann“, sagt er. Ihre Idee: Die drei Studierenden übersetzen Mateusz’ Bewegungen in Klänge, Töne und Wörter. So entstehen musikalische Improvisationen und Gedichte, die den Tanz akustisch erfahrbar machen. Selbst dann, wenn man ihn nicht sehen kann.
Vor Kurzem hat Mateusz mit „We dance the crisis“ außerdem ein Netzwerk für Tänzer*innen gegründet. Sie können dort ihre Projekte vorstellen, sich virtuell treffen oder analoge Spaziergänge planen. „Mir ist wichtig, dass wir als Künstler*innen zusammen durch diese Krise kommen und uns gegenseitig motivieren“, sagt Mateusz. Genau hinschauen und die Bedürfnisse anderer erkennen – das hat er an Folkwang gelernt, erzählt er. Die Hochschule ist für ihn ein Ort, an dem er nicht nur Tanztheorie und -praxis, sondern auch seine Beobachtungsgabe schulen kann. „Schließlich sind Sensibilität und Empathie wichtige Voraussetzungen für den Beruf des Choreografen“, sagt er. Auf der anderen Seite spielt aber auch die individuelle Persönlichkeit der Tänzer*innen eine wichtige Rolle: „Hier an Folkwang lerne ich, die Bewegung als Ausdruck meiner Gefühle oder meines Charakters zu verstehen. Ich kann also auch sehr viel von meinem Selbst in den Tanz einbringen.“
Diesen Sommer wird Mateusz seinen Abschluss machen und dafür ein Choreografie-Projekt mit dem Folkwang Tanz Studio entwickeln. Noch steht nicht fest, wie es danach für ihn weitergeht. Am liebsten würde er in einer Kompanie tanzen und nebenbei an seinen eigenen Projekten arbeiten. „Für die Menschen im Betreuungszentrum möchte ich nämlich weiterhin da sein. Und für sie tanzen.“
Fotocredits:
Bilder 1-3: Karin Gallus
Bilder 4-5: Mateusz Bogdanowicz
Bild 6, Porträt Mateusz Bogdanowicz: Christian Clarke
Kristina Schulze / 28. April 2021