Folkwang

Mehr poetischen Unsinn, bitte!

Heterotopia-Studenten veranstalteten Frustrierten-Kongress zum Thema Kapitalismus

Was die Heterotopisten im Folkwang Graduate Programm Heterotopia so treiben, ist ja für die meisten FolkwänglerInnen eine Black Box. Weit, weit weg im SANAA-Gebäude auf dem Campus Welterbe Zollverein brüten sie angeblich über ominösen Dingen, zu Gesicht bekommt man sie nur selten (Gibt es sie überhaupt?) und vermutlich sagt der namensgebende Begriff gerade mal den Menschen etwas, die sich einer intensiven Foucault-Lektüre unterzogen haben. Da scheint es doch langsam an der Zeit, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Dazu nahm StudiScout Mona Leinung an einem Frustrierten-Kongress zum Thema Kapitalismus teil, den das Büro für poetischen Unsinn (Schon der Name verspricht einiges, nicht?) bzw. die dahinterstehenden „Bürochefs“ und Heterotopia-Studenten Christian Berens & Moritz Kotzerke veranstalteten. Am 14. Juni traf man sich zu einem vierstündigen Walk durch die Einkaufsstadt Essen auf der Suche nach dem Kapitalismus als atmosphärisches Phänomen.

Poetischer Unsinn Detail c Mona Leinung
Poetischer Unsinn c Christoph Tochtrop

 

So, so, ein Spaziergang also, der Erkenntnisse ans Tageslicht befördern soll! Das kommt mir, die eine intensive Vorliebe für Charles Baudelaire hegt, gerade recht und ich fühle mich sogleich in die Rolle eines Flaneurs versetzt. Ausgestattet mit modernem Hackenporsche voller nützlicher Dinge, Quasi-Werkzeugen (Schnüre, Kleber, Trichter, Lupen, alte Haarklammern […]) und einer Kühlbox mit Butterbroten, geht es also los auf den noch etwas unklaren Kapitalismus-Walk. Hierin liegt nämlich die erste Herausforderung für den Flaneur: Verabschieden Sie sich von jeglicher Zweckrationalität und geben Sie sich dem vom Zufall bestimmten Gehen hin! Wofür Kleber, Schnüre und Trichter nützlich sein können, wird sich schon ergeben (oder eben nicht).  Der Flaneur schließt nichts aus, in seiner unbegrenzten Wahrnehmungsbereitschaft gleicht seine Neugierde der eines Kindes. Sie sehen also, bereits an dieser Herausforderung scheitern die meisten, die sich als Flaneure versucht haben! Nicht aber wir, die Teilnehmer des Kongresses, denn wir sind vorbereitet und so wollen wir gleich die erste Aufgabe, nach Leerstellen im Kapitalismus zu suchen, in poetischer „Alles muss, nichts kann“-Attitüde verstehen. Vielleicht sind Schaufenster vollgestellte Leerstellen? Und Umkleidekabinen eine Leerstelle, an der man sich mit dem imaginären Wert von Waren befüllt? Welche Leerstellen bleiben leer? Was geschieht in den Fugen?

Die verschiedenen Gruppen, die sich dieser Suche annehmen, denken unkonventionell, verorten fleißig auf Stadtkarten ihre gefundenen Leerstellen und dokumentieren detektivisch ihre Beobachtungen. Immer wieder geben die beiden Bürochefs allerlei Anreize für produktive Missverständnisse und Wortspiele.

Auf einem vorher ausgeteilten Unsinn-Leitfaden erfährt man einige Tricks und Tipps, wie man zu einer gesteigerten Dynamik des Sehens gelangt: „Nehmen Sie eine seicht tänzelnde Körperhaltung ein“ kann man da lesen, oder „Verlieren Sie sich im Detail.“ Ratschläge, die man nicht nur während eines Frustrierten-Kongresses anwenden sollte, denke ich. Wobei, so gesehen ähnelt wahrscheinlich das ganze Leben einem Frustrierten-Kongress: Man studiert die Physiognomien der Welt und letztlich bleibt man doch nur an einem sehr kleinen sichtbaren Zipfel des Eisbergs kleben. Diese Frustrationsgrenzen, innerhalb derer der Mensch zu sich selbst in seiner Tatsächlichkeit verurteilt ist, werden vom Büro für poetischen Unsinn spielerisch aufgeweicht. Dafür riskieren sie bestimmt das ein oder andere Augenrollen oder generelles Unverständnis, wenn zwölf erwachsene (und gut angezogene) Menschen bei tagheller Beleuchtung und klarem Verstand auf dem Kennedy-Platz liegen und versuchen, den Abrieb der Stadt und ihre physische Beschaffenheit nachzuspüren. Ja natürlich, für eine solche Aktion muss man schon eine Schraube locker haben, aber nur in dieser Lockerung lassen sich Distanzen und Grenzen der Individuation aufheben und in einem Akt künstlerischer Verdichtung „la saveur amère ou capiteuse du vin de la vie“  gewinnen, wie Baudelaire es seinerzeit formuliert hat.
Summa sumarum fragt man sich also, „Warum?“ und ist am Ende des Kapitalismus-Walks doch herzlich erfreut über diesen poetischen Unsinn, dem man sich in einer der Zellen des Heterotopia-Studiengangs widmet. Nur die eingeflochtenen wissenschaftlichen Inputs sind an diesem Tag ein kleiner Wehrmutstropfen und halten nicht ganz, was sie versprechen: Eher unverbunden versuchen sie, sehr vielseitige theoretische Bezüge herzustellen und bleiben letztlich ein freudiges Assoziieren um das Wort Kapitalismus. Das soll aber nicht darüber hinwegtrüben, dass diese Feldforschung von Christian Berens & Moritz Kotzerke ganz eindrücklich zeigt, dass man durch unkonventionelle Methoden des Betrachtens zu einem Bewusstsein kommen kann, in dem sich wahrgenommene Gegenstände brechen. Der Flaneur als optisches Gerät sozusagen. Bleibt nur zu hoffen, dass die beiden in der Auswertung der vieldeutigen und wirren Ergebnisse ausreichend Mut zur Poesie haben (und noch genug Butterbrote).

Weitere Informationen zum Büro für politschen Unsinn gibt es hier.

Ein Beitrag im Rahmen des Projekts „Folkwang StudiScouts“.

Foto: Christoph Tochtrop
Illustration: Mona Leinung

 

Mona Leinung / 04. September 2017