Folkwang

Folkwang geht ab

Artist Diploma Schauspiel – Entmystifizierung eines Helden

Das Leben geht auch während der Corona-Pandemie weiter. Dazu gehört auch ein Studium unter veränderten Bedingungen abzuschließen. In dieser Reihe begleiten die Folkwang StudiScouts unsere Studierenden bei ihren Abschlussprojekten und sprechen mit ihnen darüber, wie es ist abzugehen.

Carlotta Hein hat im letzten Semester ihr Folkwang Schauspielstudium mit dem Artist Diploma (AD) abgeschlossen. Dafür hat sie sich tief in die Geschichte und Abgründe einer berühmten Ehe hineingewühlt. Am Ende steht, auch aus den pandemischen Besonderheiten geboren, ein Hörspiel, das sie selbst als ein „Miteinander- und Gegeneinander-Spiel von Percussion und Stimme“ beschreibt. StudiScout Simon sprach mit Carlotta über ihre Abschlussarbeit und die Themen, die sie aktuell beschäftigen.

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Hat ihr AD Schauspiel abgeschlossen: Carlotta Hein | Foto: Birgit Hupfeld

 

Suche und Entstehung

Dass Carlotta ihr Artist Diploma Projekt allein verwirklichen würde, stand schon früh fest: „Eigentlich arbeite ich gerne in Gruppen und fühle mich allein schnell aufgeschmissen“, erzählt sie. „Deshalb wollte ich mich bewusst dieser Aufgabe stellen.“ Im ersten Workshop für das AD, der anderthalb Jahre vor dem Abschluss stattfand, recherchierte Carlotta trotzdem zunächst mit einem Studienkollegen zusammen. Beide interessierten sich für die Geschichte „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Bei ihrer Recherche stieß Carlotta dann auf eine Sammlung von Briefen des berühmten Autors an seine Mutter – und war fasziniert. Angefangen im Alter von zehn Jahren bis zu seinem Tod umfasst die Sammlung Briefe aus allen Lebenslagen von de Saint-Exupéry.

Inspiriert von einer Inszenierung zu „Bilder deiner großen Liebe“ am Bochumer Schauspielhaus, in der die Schauspielerin Sandra Hüller Texte und Musik in den Dialog brachte, wollte Carlotta sich neben der inhaltlichen Auseinandersetzung auch mit dem Bühnenmittel des Zusammenspiels von Text und Musik beschäftigen. Also fragte sie den befreundeten Popschlagzeuger Jente Tabeling an. „Ich finde, dass das Schlagzeug im Gegensatz zu melodiöseren Instrumenten weniger etwas Untermalendes als etwas Treibendes hat im Klang. Sie ist ein guter ‚Gegenpart‘ zur Stimme, etwas woran ich mich als Sprecherin abarbeiten kann, wodurch in unserem Falle auch äußere Einflüsse als Abstraktion und Irritation verlautbar gemacht werden konnten“, erklärt Carlotta ihre Entscheidung.

Ihre erste szenisch-musikalische Bearbeitung von de Saint-Exupérys Briefen stellte Carlotta den betreuenden Lehrenden dann mit Jente beim sogenannten „ersten Zwischenzeigen“ in Vorbereitung auf das Artist Diploma vor. Zu diesem Zeitpunkt spielten sie noch auf der Bühne. Mit dem Ausbruch der Pandemie konnten sie dann aber plötzlich nicht mehr in die Uni und mussten eine Alternative finden. Also nahmen sie das bisher erarbeitete Stück kurzerhand als Hörspiel auf.

Entscheidungen

Anschließend standen erstmal andere Projekte an. Auch wenn die beiden die Arbeit formell ruhen ließen – in Carlotta arbeitete es weiter. Sie recherchierte und las sich mehr in die Biografie des Autors ein. Immer wieder stieß sie auf Consuelo de Saint-Exupéry, die bisher vor allem eines ist: Die Ehefrau des Autors einer weltweit beliebten Erzählung. Was kaum bekannt ist: Auch sie hat geschrieben. Jeden Sonntag verfasste sie Briefe an ihren Mann, der als Pilot im Zweiten Weltkrieg eingezogen wurde und dort wahrscheinlich bei einem Flug verunglückte. „Irgendwann haben wir dann gesagt: Wir wollen uns ganz dieser Frau widmen und ihre Perspektive in den Mittelpunkt rücken.“, sagt Carlotta. Denn es gibt auch ein Buch, das Consuelo de Saint-Exupéry geschrieben hat: „Die Rose des kleinen Prinzen“. Es schildert eine andere Version der Ehe. Von ihrem Mann und dessen Freunden nur als Rose, als Schmuckstück betrachtet, hat diese Frau ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Aber die beiden mussten nicht nur inhaltlich eine große Entscheidung treffen. Immer wieder wurden die finalen AD-Termine verschoben, eine feste Planung war unmöglich und abhängig von Inzidenzzahlen. Carlotta und Jente verlegten ihre Proben endgültig ins Uni-eigene Tonstudio. Sie blieben beim Hörspielformat und waren von da an freier in ihrer Arbeitsweise. Denn so konnten sie auch an unterschiedlichen Orten gemeinsam weiterforschen, Dinge aufnehmen, zusammenfügen und sich gegenseitig ergänzen. Carlotta suchte die Texte aus, gemeinsam entwickelten sie eine Dramaturgie und starteten die Aufnahmen. Ihr fertiges Hörspiel hat Carlotta per Link an die Prüfungskommission gesendet. Publikum oder eine Aufführung auf der Bühne hat es nicht gegeben, nicht geben können.


Die Frau auf der Bühne

„Ich habe mir für mein Hörspiel kein fertiges Konzept überlegt, sondern nur einen Anfang“, erinnert sich Carlotta. „Die Thematik, die dahintersteht, rumorte seit anderthalb Jahren in mir“, erzählt sie. Damit meint sie unter anderem die patriarchale Unterdrückung der Frau, die sich auch in der Literatur widerspiegelt. Männer stehen allzu oft im Mittelpunkt von Erzählungen, während die Frauen auf ihr Geschlecht und den zugeschriebenen Verhaltensmustern reduziert werden. Es ist Carlottas eigener Anspruch, derartige Strukturen, die auch die Theaterwelt bis heute prägen, nicht zu reproduzieren, sondern zu verändern. Sie beschreibt das so: „Auf der Bühne möchte ich mich diesen Gesellschaftsmustern stellen, statt sie auszublenden.“ Inspiriert von der Biografie Consuelos geht es in ihrem Hörspiel um die Geschichte einer Ehe, in der der berühmte Mann seiner Frau gegenüber psychisch-manipulativ übergriffig ist. Carlotta gelingt eine Entmystifizierung des berühmten Autors, der seine Frau vielfach betrügt und mit ihren Gefühlen spielt. Carlottas Beschäftigung klingt nicht nur nach der aktuellen #metoo-Debatte, sie trifft ihr Zentrum.

„Wenn ich als Frau auf die Bühne gehe, ist es ein anderes Politikum, als wenn ein Mann die Bühne betritt“, erzählt sie. Diese Metaebene inhaltlicher Auseinandersetzung bestimmt Carlottas Drang sich künstlerisch auszudrücken. Schauspielerin zu sein ist für sie eine politische Entscheidung, denn wie eine Rolle gespielt oder angelegt wird, (re)produziert immer auch ein gesellschaftliches System und seine Strukturen. Carlotta hinterfragt gerne, sie sucht nach den ungehörten Stimmen, wie denen von Consuelo. „Wir lassen die Frau zu Wort kommen, die aus der Biografie des großen Helden allzu oft gestrichen wird“, sagt sie. Die Bühne ist für Carlotta ein Ermächtigungsraum, in dem sie andere Bilder zeigen kann, als die gängigen.

Abschluss und bleibende Herausforderung

Diese Haltung, die den Kern ihrer künstlerischen Individualität ausmacht, möchte sie sich bewahren, und es ist ihr und der Theaterwelt zu wünschen. Im Anschluss an ihr AD hat sie bereits als Schauspielerin am Staatstheater Mainz angefangen. Carlotta möchte an ihren eigenen Ansprüchen festhalten und freut sich auf die Arbeit. Ihr erstes Stück, so viel darf sie verraten, „ist ein modernes Stück, in dem es um Frauen geht, die nicht über Männer definiert werden.“

Ihr AD ist auch ein Bild einer neuen Generation von Schauspieler*innen, die neue Impulse in die bestehenden Diskurse einbringen und diese verändern will. Eine Generation, die sich intensiv mit den Strukturen, in denen sie sich befinden, auseinandersetzt.

 

 

Ein Beitrag im Rahmen des Projekts „Folkwang StudiScouts“.

 

Simon Gierlich / 17. Juni 2021