Ein Mann geht durch die Wand
_Das Folkwang Musical 2012
- Musical von Michel Legrand & Didier van Cauwelaert
nach der gleichnamigen Novelle von Marcel Aymé - Deutsch von Edith Jeske
Wenn man durch Wände gehen kann
Herr Dutilleul ist ein kleiner, viel zu bescheidener Postbeamter. Eines Tages entwickelt er die erstaunliche Fähigkeit, durch Wände zu gehen. Seine ungewöhnliche Begabung nutzt er, um seinem ungeliebten Vorgesetzten zuzusetzen, seinen Mitmenschen zu helfen und die Ordnung in Paris auf den Kopf zu stellen. Bald schon ist der geheimnisvolle ‘Werwolf’, der nachts durch Straßen und Häuser schleicht, in aller Munde. Doch dabei geht es Dutilleul vor allem um eines: Das Herz seiner Nachbarin Isabelle zu gewinnen, die er schon so lange anbetet. Doch diese ist die Gefangene ihres Mannes, des gefürchteten Staatsanwalts. Mit seiner besonderen Fähigkeit und all seinem Mut fasst Dutilleul einen kühnen Plan, Isabelle zu erobern.
Das Musical Ein Mann geht durch die Wand basiert auf der 1943 erschienenen Novelle Le Passe-muraille des französischen Schriftstellers und Dramatikers Marcel Aymé. Michel Legrand und Didier van Cauwelaert fanden sich 1997 zusammen, um den Stoff als Grundlage für ein Chanson-Musical zu nehmen, das mit großem Erfolg in Paris uraufgeführt wurde. Nach Produktionen in New York und Tokio bringt die Folkwang Universität der Künste in Koproduktion mit dem Theater im Rathaus Essen das Musical nun erstmals in deutscher Sprache auf die Bühne.
Hintergründe zum Musical
Der Stoff, in Deutschland seit 1959 durch die Verfilmung mit Heinz Rühmann als duckmäuserischem Steuerbeamten bekannt, wurde in diesem kammermusikalisch besetzten Musical trotz seiner engen Bindung an die Pariser Nachkriegszeit erfolgreich reaktiviert. Im 18. Bezirk, einem Pariser Arbeiterviertel, leben in dieser wenig begüterten Zeit die Prostituierte mit dem goldenen Herzen, der Zeitungsverkäufer, die Polizisten auf dem Fahrrad, der Arzt, der Straßenmaler und jener eigentlich unbedeutende Beamte mit seiner ungeahnten Gabe.
Legrands auf diese Zeit zugeschnittene, jedoch nie verstaubt wirkende Musik entlockt der winzigen Besetzung durch seine raffinierte Instrumentation ein überraschendes Klangspektrum, die Songs stehen in der besten Tradition des Chansons. Die amerikanischen, jazzgeprägten Erfahrungen des damals 51-jährigen Komponisten, die er in seinem Musicalfilm Yentl (1983) mit seiner eindringlichen Musik für Barbra Streisand gestaltete, bleibt hier unhörbar, er zeichnet für jede der vielen mehrfach besetzten Rollen individuelle französische Charaktere und rückt den Musettewalzer mit Figurationen der Bassklarinette vom vertrauten Klischee ab.
So auch beim Gesang der vier Funktionäre aus dem Ministerium: Dramaturgisch wie ein Barber-Shop-Quartett eingesetzt, musikalisch jedoch ein rein französisches Kontinuum, das – wie ein Rondo die jeweilige Situation des Kollegen kommentierend – die Handlung gliedert. Die genuschelte Suada der Diagnose durch den Psychiater Dr. Dubeurre parodiert die Gesprächsroutine der behandelnden Mediziner, der Marsch des neuen Chefs mit Arabesken der Piccoloflöte den Habitus der Veteranen. Der Anblick von Dutilleuls Kopf in der Wand bringt letzteren völlig aus der Contenance. Die reflektierenden Chansons des Beamten spiegeln mit immer wiederkehrendem, motivisch fixiertem und hastigem Sprechgesang dessen Unsicherheit, sein Handeln wider das eigene Naturell reflektiert er flötenbegleitet im fragenden Selbstgespräch. Isabelles Gedanken äußern sich, wie ihre verliebten Dialoge mit Dutilleul, in klavierbegleiteten zarten Chansons, meist kontemplativ, aber bisweilen mit charmanter Aufgeregtheit.
Die euphorischen Kritiken der Pariser Uraufführung ebneten der Produktion einen bis Ende 1997 anhaltenden Erfolg. Die Zeitung Le Canard enchaîné bestätigte:
"Das in der Tradition Offenbachs stehende Stück mit seinen frappierend raschen und durchkomponierten Szenenfolgen hat alle Chancen, viele Grenzen zu überschreiten."
Ein Mann geht durch die Wand erhielt den Prix Molière für das beste Musical, Alain Sachs wurde er als bestem Regisseur verliehen.
Keinem geringeren als dem Regisseur James Lapine und dem Komponisten, der seine eigene Partitur neu orchestrierte, misslang der Versuch, die Intimität des französischen Originals in ein größeres Broadway-Format zu übertragen. Mit dem unpassenden Titel Amour von der Shubert Organization produziert, kam diese Inszenierung in der Choreografie von Jane Comfort mit Malcolm Gets als Dutilleul/Dusoleil nach 31 Previews nicht über 17 Vorstellungen hinaus. Im abgelegenen Norma Terris Theatre in Chesnut CT hatte die amerikanische Fassung, produziert vom Goodspeed Opera House, in der Inszenierung von Darko Tresniak am 11. August 2005 eine weitere Premiere.
Dr. Thomas Siedhoff